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Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tomás Eloy Martínez
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Ihre Verbindung zu Ganymed ist viel wert, mehr, als Sie denken.
    Ich weiß. Aber ich ergreife keine Vorsichtsmaßnahmen. Höhere Mächte als die von dieser Welt nehmen sich meiner an.
     
    Der Abend ist ruhig, nicht einmal der Delaware fließt. Die runde, graue Schäfchenwolke ist noch immer dieselbe. Alles verharrt in seinem Sein außer Emilia. Die Erinnerung an die Mutter hat sie wie ein Schatten durchzogen und verändert. Sie hat kaum von dem Chianti gekostet, den Teller Nudeln kaum angerührt. Sie möchte nur, dass Simón mehr mit ihr spricht. Doch er starrt weiterhin auf den Fluss hinaus und sagt nichts. Am Vormittag schien er doch munter, als er die Geschichte mit dem Schriftsteller und der kleinen Tafel erzählte, aber gleich darauf ist er zu dem gleichgültigen Ausdruck zurückgekehrt, der sie so sehr an die kranke Mutter erinnert. Sie sagt sich immer wieder, sie sei ungerecht, sie wisse ja nicht um die Stürme, die er durchlebt habe. Sieben Jahre in einer geriatrischen Klinik, denkt sie. Sie war nur wenige Male in einer zu Besuch und hatte beim Hinausgehen jedes Mal kaum die Beklemmung abschütteln können. Wo war denn diese geriatrische Klinik, Simón?, fragt sie. Da er keine Antwort gibt, beschließt sie, ihm den scheußlichen Traum zu erzählen, den sie in der Nacht vor ihrer Begegnung im Trudy Tuesday hatte. Sie sagt:
    Ich sah mich um die Ecke einer menschenleeren Straße biegen. Du bist mit großen Schritten und gesenktem Kopf auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig gegangen. Simón!, habe ich gerufen. Du hast die Straße überquert und bist zu mir gekommen, ich habe dir die Hand gegeben. Wie schön, Sie wiederzusehen, Señor Cardoso, hab ich zu dir gesagt, mit einer Distanz, die im Traum ganz natürlich war. Ich weiß nicht, ob Sie sich daran erinnern, dass ich mit Ihnen verheiratet war. Ach ja?, sagtest du. Wie schön. Ich war also mit Ihnen verheiratet. Ich weiß nicht, was es dazu noch zu sagen gibt, Señora. Wir Toten haben keine Erinnerungen. Ich bin in Eile, ich muss gehen. Erinnern Sie sich bitte, flehte ich dich an, erinnern Sie sich an mich, Señor Cardoso. Du machtest eine Handbewegung, die ich nicht verstand. Die leere Straße füllte sich mit Stimmen und Menschen, die sich einen Platz schaffen wollten. Meine Eltern, Chela, die Kartographen von Hammond, Nancy, die Leute von den Hügeln in Caracas, die Figur von James Stewart in
Vertigo
und hinter ihnen eine unendliche namenlose Menge. Alle versuchten, mich auf sich aufmerksam zu machen, während ich dich am Gehen hindern wollte, doch du warst schon gegangen, ohne dich zu verabschieden. Nie war ich von mehr Leuten umgeben als in diesem Traum, und es gefiel mir nicht. Beim Erwachen spürte ich, dass es die unerträglichste aller Einsamkeiten ist, nicht allein sein zu können.
    Bevor es dunkel wird, kehren sie im Altima nach Highland Park zurück. Emilia fährt schweigsam. Sie weiß nicht, was sie zu dem in sich gekehrten Ehemann sagen soll. Sie hat ihm bereits angekündigt, dass sie am Montagvormittag mit ihm seine Dokumente wieder beschaffen wird, die Karte der Sozialversicherung, den Führerschein, falls er einen hat. Sie sollte ihn fragen, wo er diese Dinge hat, aber nicht jetzt. Jetzt fährt sie über die Raritan-Brücke und erblickt am Ufer erleuchtete Pavillons: Tombolas, Bingos, Kunsthandwerkstände, eine Reihe fröhlicher japanischer Lämpchen, die sich im Winde wiegen. Und wenn wir später zwischen diesen Pavillons eine Runde drehen?, fragt sie. Die einzige Kirmes, die man in diesem Ort kennt, findet in der Hauptstraße statt, jeweils am 4 . Juli, unter offenem Himmel. Ich habe nicht gewusst, dass es auch eine am Flussufer gibt, und schon gar nicht im November, wenn es so unerwartet regnet. Das muss die erste sein. Wenn es ein Misserfolg wird, gibt es keine weitere. Gehen wir hin und schauen uns um? Später, antwortet Simón, später.
    Als sie zur Wohnung in der North Fourth Avenue gelangen, zeigt er jedoch nicht die geringste Absicht, noch einmal auszugehen. Er schlüpft aus den Schuhen, wärmt den Kaffee vom Morgen auf und toastet eine Scheibe Schwarzbrot. Nachdem er sich an den Tisch gesetzt hat, scheint er zum Sprechen aufgelegt. Er streckt eine Hand nach Emilia aus und streichelt sie. Er sagt:
    Auch der Schriftsteller, der in den Höfen der geriatrischen Klinik auf und ab ging, ohne sich je von seiner kleinen Schiefertafel zu trennen, hat mir einen Traum erzählt. Nicht direkt einen Traum, sondern die Erinnerung an einen Traum,

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