Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tomás Eloy Martínez
Vom Netzwerk:
der immer wieder kam. Ein riesiger schwarzer Hund fiel über ihn her und leckte ihn. Der Hund hatte sämtliche Dinge in sich, die es je gegeben hat, und auch die, von denen man sich nicht einmal vorstellen kann, dass es sie gegeben haben könnte. Was es nicht gibt, das sucht immer einen Vater, sagte der Hund, jemanden, der ihm zu Bewusstsein verhilft. Einen Gott?, fragte der Schriftsteller. Nein, irgendeinen Vater, antwortete der Hund. Die Dinge, die es nicht gibt, sind sehr viel zahlreicher als die, die es je geben wird. Was es nie geben wird, ist unendlich. Die Samen, die weder ihre Erde noch ihr Wasser gefunden haben und nicht Pflanze geworden, die Geschöpfe, die nicht geboren, die Figuren, die nicht geschrieben worden sind. Die Felsen, die zu Staub geworden sind? Nein, diese Felsen waren irgendwann. Ich spreche nur von dem, was hätte sein können und nicht war, sagte der Hund. Der Bruder, den es nicht gegeben hat, weil es statt seiner dich gegeben hat. Wenn du Sekunden vor- oder Sekunden nachher empfangen worden wärst, wärst du nicht der, der du bist, und wüsstest nicht, dass dein Leben in der Luft von nirgendwo verloren ging, ohne dass du es auch nur erfahren hast. Was es gar nie geben wird, weiß, dass es hätte sein können. Dazu werden die Romane geschrieben: zum Ersatz des dauernden Fehlens dessen, was es in der Welt nie gegeben hat. Der Hund löste sich in Luft auf, und der Schriftsteller erwachte wieder.
    Ohne dass Emilia ihn darum bittet, erzählt er ihr, wo er diese ganzen Jahre gewesen ist. Sie hört die Sätze fallen, als kennte sie sie, die Sätze bilden Geschichten, die auf eine Leinwand projiziert scheinen. Es ist derselbe trügerische Eindruck, wie sie ihn hatte, als es in ihrer Zelle in Tucumán Bilder regnete.
    Ich weiß nicht mehr, wie ich in diese geriatrische Klinik gekommen bin, und glaube auch nicht, dass es von Belang ist. Die Direktorin erwartete mich. Das Haus war von einem Eisenzaun umgeben. Beim Eingang über der Holztür sah ich eine Markise aus undurchsichtigem Glas. Die Zimmer hatten sehr hohe Decken, ein Bett ohne Kopfteil und mehrere Kruzifixe. Alle gingen auf einen Hof mit Palmen und Lapachobäumen hinaus, wo die Patienten Luft schnappten und sich sonnten. Der Hof, für den ich verantwortlich war, hatte einen Boden mit großen, ornamental geränderten Mosaiken. Männer und Frauen waren getrennt, und in den sieben Jahren, die ich dort verbracht habe, gab es nie die geringste Kommunikation zwischen den Geschlechtern. Wir Männer sprachen wenig, spielten Dame, sahen fern. Einmal habe ich dich in der Tagesschau neben deinem Vater gesehen.
    Emilia ist überrascht. In der Tagesschau? Das war nicht ich.
    Du warst es, bekräftigt Simón. Es wurde eines der Spiele der Fußballweltmeisterschaft ausgetragen, das erste oder das letzte. Dein Vater befand sich auf der Haupttribüne, hinter den Kommandanten, die sich umdrehten, um sich mit ihm zu unterhalten. Du hast auf der gegenüberliegenden Tribüne gegähnt. Du hast einen himmelblau-weißen Schal und eine weiße Wollmütze getragen und gegähnt und gelacht.
    Das war ich? Wie peinlich.
    Du warst es.
    Nein, in jenen Monaten war ich schon nicht mehr ich. Ich begann mich zu verlieren, als du gingst. Oder, schlimmer, ich wurde jemand, der ich nicht sein wollte. Es ist für alles zu spät, Simón. Ich bin über sechzig. Du hast mir schon mehr gegeben, als ich verdiene, du hast mich glücklich gemacht. Jetzt kannst du gehen und dich retten. Ich bin es nicht wert. Nicht einmal für mich selbst bin ich wichtig.
    Das stimmt nicht. Wenn es stimmte, wäre ich nicht zurückgekommen. Du hast begonnen, dich selbst zu verlieren, wie du richtig sagst: Das ist etwas anderes. Du hast einen Teil verloren. Mit dem, der dir bleibt, könntest du noch einmal von vorn anfangen. Unterschätze dich nicht. Ich liebe dich.
    Ich liebe dich auch so sehr, so sehr. Ich weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll.
    Was anfangen? Das Leben, das du führst, ist erniedrigend. Ich habe den Haufen unnützer Rabattmarken gesehen, um zu kaufen, was du nie konsumieren wirst: Rabatt für Pickles, Campbell-Suppen, Schokoladenpudding, einen bunten Strauß frische Rosen. Und die Bingokarten. Und die designten Nägel. Und die Freundinnen, die du dir aussuchst. Anstatt dein Spiegel zu sein, sind sie deine Erniedrigung. Was hast du mit deinem Leben gemacht, Emilia?
    Nichts, das ist das Schlimme. Ich habe nichts damit gemacht. Mein Leben hat alles mit mir gemacht.
     
    Wenige Wochen

Weitere Kostenlose Bücher