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Purpurdämmern (German Edition)

Purpurdämmern (German Edition)

Titel: Purpurdämmern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
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dass es anders ist. Umo, wenn der Spalt über Níval aufbricht und die Horden der Kjer herausströmen und Fayeí-Blut über den brennenden Überresten der Fayeí-Städte vergießen, dann weiß ich nicht, wie ich mit dieser Schuld leben kann.« Santino fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Doch ich bringe es auch nicht über mich, mich den Imperialen Horden auszuliefern und zu sagen: Seht her, ich ergebe mich! Also haltet euch fern von den lieblichen Gestaden des Nebelsees, ihr müsst nicht länger suchen. Ich bin kein guter Mensch, hörst du? Ich bin selbstsüchtig. Ich will nicht sterben. Ich habe geschworen, diesen blutsaufenden Bastard zu töten. Er hat meine Familie auf dem Gewissen. Er hat mein Land versengt. Auge um Auge, hörst du, Umo? Ich kann nicht sterben und dabei wissen, dass er lebt.«

    Ich kann nicht sterben und dabei wissen, dass er lebt.
    Dabei hatte sie gar nicht lauschen wollen. Doch gerade, als sie sich bemerkbar machen wollte, war ihr Name gefallen. Da hatte sie eben doch gelauscht.
    Echos kreisten in ihrem Kopf, während Marielle sich rückwärts vom Waldrand fort bewegte, auf allen vieren, steif vor Angst, dass einer der beiden Männer sie entdecken könnte.
    Verraten, hallte es durch ihren Geist.
    Die, denen du am meisten vertraust, haben dich verraten. Und sie hatte gedacht, Eoghan wäre der größte Verräter von allen. Ihr eigener Vater, der ihr Glück fürs Wohl des Reiches opferte. Weit gefehlt. Santino war willens, ein ganzes Reich zu opfern, das Leben von Menschen wie ihr und Eoghan und Magister Féach, für seine persönliche Rache. Sie explodierte schier vor Wut und wollte lachen, doch es kamen nur Schluchzer aus ihrer Kehle. Das letzte Stück des Pfades richtete sie sich auf und rannte. Die Tränen machten sie blind. Sie stolperte, sie ließ sich hineinstürzen in den Schmerz, der ihr durchs Knie zuckte, sie wollte schreien. Sie unterdrückte den Schrei, denn sie fürchtete, dass die beiden sie hören konnten. Und was würde Santino tun, wenn er bemerkte, dass jemand die Wahrheit kannte? Sie über die Brüstung werfen, den Hunden zum Fraß, so wie Umo ein paar Stunden zuvor die Flüster-Akeleien ins Feuer geworfen hatte?
    Und niemand war da, zu dem sie gehen konnte.
    Ken war spurlos verschwunden, seit seinem seltsamen Auftritt kurz nach ihrem Streit mit Nessa. Und die Purpurkatze gab sich beleidigt und redete kein Wort mit ihr.
    »Nessa«, flüsterte sie. Tränen rannen ihr die Wange hinab und sammelten sich in ihrem Mundwinkel. »Nessa, es tut mir leid. Es tut mir leid, du hattest recht. Du hattest die ganze Zeit recht.«
    Santinos Verrat erschien ihr so unfassbar, so abstrakt, so gigantisch, dass sie nicht einmal die Kraft fand, wütend zu sein. Seine Kälte erschreckte sie. Und dass er den Buchstabensammler kannte, schlimmer noch, dass die beiden offenbar alte Freunde waren, fühlte sich an, als würde sich im Nachhinein herausstellen, dass ein kostbares Geschenk, an dem sie sich Jahrzehnte gefreut hatte, in Wirklichkeit für jemand anderen bestimmt gewesen war. Die Demütigung war wie ein Messer im Herzen. Wie ein unmündiges Kind hatten sie sie belogen, das die Mühe nicht wert ist, die Wahrheit zu erfahren.
    Sie stürmte die Treppen hinunter, bis ganz ins unterste Geschoss, bis zu einem Lagerraum, in dem der Buchstabensammler allerlei seltsame Geräte hortete. Dort ließ sie sich auf den Boden sinken und weinte, bis ihre Kehle heiser war und ihre Augen schmerzten. Bis keine Tränen mehr übrig waren, um ihre brennenden Lider zu kühlen.

    Ken verknotete das Seil in der Eisenschlaufe und zog ein paarmal daran, um die Festigkeit zu prüfen. Professionelle Kletterausrüstung war das nicht gerade, aber man musste nehmen, was man kriegen konnte. Unter ihm klaffte hundert Meter tief der Spalt. Die Hunde auf beiden Seiten der Schlucht gebärdeten sich wie irrsinnig, sprangen hoch und kläfften ihm ihren Hunger entgegen.
    Das Seil hatte er in einer Abstellkammer gefunden, zwischen Werkzeugkisten und ineinandergestapelten Plastikeimern. In seinem Gürtel steckte ein Messer aus Umos Küche, doch er machte sich nichts vor. Wenn eine der Bestien ihm so nahe kam, dass er es benutzen musste, konnte er sich sowieso abschreiben.
    Er legte den Kopf in den Nacken und warf einen Blick die Mauer empor, fünf Stockwerke und ganz oben die Ranken, die über die Dachbrüstung wucherten. Dann blickte er zur Seite und nach unten und musterte die Wand, die aussah wie ein von Karies zerfressener

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