Purpurdämmern (German Edition)
entlangschrammte, nur tausend Mal schlimmer.
Das durfte nicht wahr sein. Noch einen Herzschlag verharrte er, dann rannte er los. »Ich muss zurück zur Festung«, brüllte er über die Schulter hinweg. »Komm nach, wenn du kannst!«
Marielle war sich nicht sicher, wie viel Zeit sie in der Abstellkammer verbracht hatte, aber als sie hochschreckte, füllte ein pappiger Geschmack ihren Mund. Sie wusste nicht einmal, was sie geweckt hatte. Ihr Gesicht fühlte sich klebrig an. Sie hatte bis zur Erschöpfung geweint und war dann eingeschlafen. Wann war ihr das zuletzt passiert? Sie konnte sich nicht erinnern.
Etwas Weiches strich an ihrer Hand entlang. Ein Maunzen. Sie tastete über Ohren und Fell. »Nessa«, flüsterte sie.
Warum versteckst du dich hier?
Die Purpurkatze schnurrte an ihrem Ohr, der höchste Grad an Versöhnungsheischen, zu dem Nessa fähig war. Benommen dachte Marielle, dass sie wirklich einen grässlichen Anblick abgeben musste, wenn Nessas Mitleid über ihre beleidigte Ehre triumphierte.
»Ich habe etwas herausgefunden.« Ihre Kehle schmerzte, als hätte sie jemand mit einem Reibeisen malträtiert. »Etwas Schreckliches.«
Was hast du herausgefunden? Dass der Magier ein herzloser Bastard ist?
Nessa stupste ihren Kopf in ihre Handfläche.
Komm, wir gehen den Schrank aufmachen. Den mit dem Fisch.
Sie brachte es nicht über sich, zu wiederholen, was Santino und der Buchstabensammler gesagt hatten. Das wäre gewesen wie eine Wunde aufzureißen, in der gerade das Blut zu gerinnen begann. Außerdem, was änderte es? Schön, Nessa hatte recht behalten. Man konnte Santino nicht trauen. Die Purpurkatze würde sich in der Genugtuung wälzen, es besser gewusst zu haben als alle anderen. Die Vorstellung von Nessas Selbstgerechtigkeit war Salz in Marielles Wunden. Das ertrug sie nicht.
Jetzt komm. Die Kleinen haben Hunger.
»Lügnerin!« Aber lächeln musste sie doch. Ihre Mundwinkel schmerzten ein wenig. »Hast du Ken gesehen?«
Bestimmt ist er in der Küche. Hinter dem Fischschrank vielleicht.
Seufzend mühte sie sich auf die Füße. Das Heulen der Devora hallte gedämpft durch die Mauern, ein unheimliches Dröhnen und Röhren.
Sie brauchte einen Plan für ihre Rückkehr nach Níval.
Sich still und heimlich davonzustehlen, bevor Santino sie im Tíraphal abliefern konnte, stand nicht mehr zur Debatte. Sie musste mit ihrem Vater reden und ihm vom Verrat des Magiers berichten. Eoghan und Magister Féach mussten von der Wahrheit hinter den Rissen erfahren. Die Existenz von Níval stand auf dem Spiel. Und Santino opferte sie einfach so, für seine selbstsüchtigen Pläne! Ließ sie und alle anderen einem Phantom nachjagen, ließ sie kostbare Zeit verlieren, während die Bedrohung von einer ganz anderen Seite auf sie zuraste! Eins stand jedenfalls fest. Die Hochzeit mit Newan würde nicht stattfinden. Nicht mit ihr.
Sie trat aus der Abstellkammer hinaus in das weitläufige Gewölbe. Rings um sie glommen die Lichtstäubchen auf und tauchten die Pfeiler in warmen Schein. Nessa hüpfte neben ihr her wie ein karmesinfarbener Gummiball.
Kurz vor der Treppe blieb sie stehen, als über ihr Schritte erklangen und ein paar halb verständliche Worte. Santino und der Buchstabensammler. Etwas schepperte. Santino fluchte.
Was ist?
»Wir warten«, murmelte sie.
Den beiden über den Weg zu laufen, das verkraftete sie jetzt nicht. Sie bereute nur, dass sie nicht länger im Gebüsch ausgeharrt hatte. Alles, was sie wusste, war, dass ihre Hochzeit mit Newan das Problem nicht löste, was offenbar hieß, dass die Risse nichts mit der Ankerwelt zu tun hatten. Und dass die Kjer ihre Stadt überrennen würden, weil Santino ein gesuchter Königsmörder war.
Ihr Vater musste Santino verbannen, damit die Kjer nicht länger einen Grund hatten, Níval zu brandschatzen. Doch wie konnte man die Risse reparieren? Der Buchstabensammler wusste sicher Rat, aber Umo machte mit Santino ja gemeinsame Sache! Dieser miese Verräter! Sie wusste nicht einmal, auf welchen der beiden sie wütender war. Wie konnte er ihr Vertrauen so schamlos missbrauchen? Sie hatte ihm von der Hochzeit und den Rissen erzählt, und er hatte sich, statt ihr die Wahrheit zu sagen, mit hohlen Phrasen herausgewunden.
Blieb noch die leidige Heiratsgeschichte. Selbst wenn es nicht länger nötig war, einen Schlüssel für die Ankerwelt zu erschaffen, konnte Eoghan immer noch versuchen, sie aus Gründen der Staatsräson in die Ehe zu zwingen. Santino hatte gesagt,
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