Purpurdämmern (German Edition)
eingeschnürten Buch beiseite und wälzte sich auf den Rücken. Über ihm bildeten sich leuchtende Wolken. Unter der Decke schaukelten die Buchstabenketten. Wie spät mochte es sein? Mitternacht?
Schritte huschten über den Beton. Leiser Atem, ein Miauen. Sekunden später tauchte Marielles Gesicht über ihm auf, das blonde Haar ganz aufgelöst. Ein seltsamer Ausdruck lag auf ihrem Gesicht.
»Ein Glück«, stieß sie hervor, »dass ich dich gefunden habe!«
11
Hinter den Fensterbändern zog das erste Grau des Morgens auf. Nessa lag auf einem Bücherregal. Ihre Vorderpfoten und der Schwanz hingen herab wie fliederfarbene Staubwedel. Sie tat so, als ob sie schlief, aber Marielle sah genau, wie sie ab und zu die Augen einen Spalt öffnete, um sich zu vergewissern, was um sie herum vorging.
Sie selbst lehnte mit dem Rücken an Kens Brust, die Beine auf dem Boden ausgestreckt. Seine Arme umschlossen ihre Schultern und wärmten ihr Körper und Seele zugleich. Ein Stockwerk über ihnen rumorten Santino und der Buchstabensammler und packten Gegenstände in Kisten. Ihre Geschäftigkeit unterstrich die Endgültigkeit des Abschieds von dieser Welt. Umo gab die Festung auf und nahm nur das Notwendigste mit.
Eine Idee hatte sich in ihrem Kopf geformt, während Ken ihr in den langen Stunden ihrer gemeinsamen Nachtwache von seinem Vater erzählt hatte. Er tat ihr leid, und sie hätte ihn gern getröstet, aber es gab kaum etwas, das sie sagen konnte. Außerdem lag ihr das eigene Elend wie ein eiserner Ring um die Kehle. Also hatte sie ihm gelauscht und manchmal Fragen gestellt und die Berührung seiner Finger genossen, die durch ihre Locken kämmten.
»Und Umo hat wirklich gesagt, Coinneach sei ein Prinz der Tuatha Avalâín?«, vergewisserte sie sich.
»Hat er.« Ken seufzte. »Was immer das heißt.«
»Die Tuatha Avalâín, die Licht-Fayeí, sind unsere Brüder und Schwestern.« Sie rümpfte die Nase. »Die, deren Thronfolger ich heiraten soll. Aber wenn Coinneach ihr Prinz wäre …« O Sarrakhan, hätte sie doch nur besser aufgepasst, als Magister Féach sie über die langweiligen Abstammungslinien der Fayeí-Königsgeschlechter belehrt hatte.
»… dann wäre ich mit dir verwandt?« Er küsste sie auf den Nacken.
»Unsinn. Ich bin von den Tuatha Mórí, das habe ich dir hundertmal erzählt.«
»Zweimal. Höchstens.«
»Sie sind Licht-Fayeí und ich bin eine Nebel-Fayeí. Von geringblütiger Abstammung, nur dass du’s weißt.«
»Echt?«
»Hat Newan gesagt.«
»Dieser Prinz, den du nicht haben willst?«
»Genau.«
»Dann soll er sich doch zum Teufel scheren.«
Es mochte vielleicht kindisch erscheinen, aber so, wie er es sagte, schickte es ihr ein warmes Prickeln in die Wangen. Ihre Idee gefiel ihr immer besser, je länger sie darüber nachdachte. »Okay, also Newan ist der Sohn von König Aedan, dem Herrscher über Tír na Avalâín. Soweit ich weiß, hat er keine Geschwister.«
»Wovon redest du?«
»Schhh«, machte sie. »Lass mich überlegen.«
Die alte Königin Maebh aber, Newans Großmutter, hatte die nicht zwei Söhne gehabt? Angestrengt versuchte sie sich die Tafel mit den Lavendelornamenten ins Gedächtnis zu rufen, auf denen die Genealogie der Königsgeschlechter seit Sarrakhan niedergelegt war. Da kam es wieder, ein blasser Schemen. Coinneach und Aedan, das klang vertraut, das brachte eine Saite zum Schwingen. Der Beschreibung nach, die Ken von diesem Coinneach abgegeben hatte, konnte der Kerl tatsächlich ein Licht-Fayeí sein. Und wenn es stimmte, dass er Maebhs Sohn war, dann bedeutete es, dass Ken mit Newan auf einer Stufe stand, was seine Herkunft betraf. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Aber selbst wenn der Buchstabensammler sich irrte, wenn Ken kein Halbblutprinz der Tuatha Avalâín war, was spielte es für eine Rolle? Die Sache mit dem Blut als Schlüssel zum Ankerwelt-Portal war doch sowieso eine Farce.
»Hör mal«, sagte sie, »du musst mir einen riesigen Gefallen tun.«
»Klar.« Er zwirbelte eine ihrer Haarsträhnen und kitzelte sie damit im Ohr, dass sie quietschen musste.
»Nicht!« Sie packte sein Handgelenk. »Hör auf!«
Er fiel in ihr Kichern ein und pustete ihr ins andere Ohr. Sie drehte sich herum und wollte auch seine zweite Hand fangen. Er zog sie fester an sich und ließ sich mit ihr zu Boden sinken, sein Atem ganz dicht an ihrer Wange. Sie senkte den Kopf, bis ihre Lippen sich berührten. Er küsste sie zart, wie Schmetterlingsflügel. »Ich will nicht, dass du
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