Purpurdämmern (German Edition)
umwickelt und am Faustschutz mit Troddeln und Bändchen verziert. Daneben hatte er ein Bündel geworfen, aus dem ein Pfeilköcher und die Spitze eines Bogens hervorragten.
Hoffnung schoss ihm die Kehle hoch, scharf und luftig. »Kommst du mit?«
»Ich bin mir nicht sicher.« Coinneach hob den Kopf. Zwischen den Fingern drehte er Moms Haarspange. »Vielleicht bist du ein Trugbild, das mich ins Freie locken soll.«
Ich bin dein Sohn, wollte Ken schreien. Spürst du das nicht? Dass das eigene Kind vor dir steht? Andererseits, als er Coinneach zum ersten Mal über den Weg gelaufen war, hatte ihn auch kein besonders vertrauensvolles Gefühl überwältigt. Im Gegenteil. Also was erwartete er?
»Ehrlich gesagt, ob du nun hier stehst oder auf der Straße, macht keinen Unterschied. Wenn die Hunde hinter dir her sind, wird das bisschen Gestrüpp sie nicht aufhalten.«
»Hunde?«
Wenigstens hatte er aufgehört, seine Melodie zu summen. Das Buch zog an Kens Hüfte wie ein Mühlstein, den man früher Hexen um den Hals gehängt hatte, damit sie im Wasser untergingen. »Kommst du jetzt bitte?«
»Woher kennst du sie?«
»Meine Mom?«
Coinneach begann wieder zu summen. Verdammt, verdammt, verdammt. Ken kannte die blöde Melodie. Er konnte nur den Finger nicht darauf legen. Ein Kirchenlied? Eine Fernsehserie? Moms Lieblingsgedicht? Die Barden früher hatten doch keine Gedichte zitiert, sie hatten sie gesungen. Das waren Lieder, die in Moms Gedichtbändchen standen. Kens Lippen bewegten sich wie von selbst, als wüssten sie, was zu sagen war, bevor sein Geist den Gedanken formte.
»Heht mec mon wunian on wuda bearwe,
under āctrēo in þām eorðscræfe.«
Sie hießen mich, in einem Waldhain zu leben,
unter einem Eichenbaum, in jener Erdhöhle.
Etwas geschah. Seine Fingerspitzen kribbelten. Die Worte schmiegten sich an Coinneachs Töne, als wäre die Melodie eine Schale, die extra für sie gemacht worden war. Er spürte ein Zittern im Gewebe, wie Magie. Ein Beben entlang einer Linie, die versiegelt worden war.
»Eald is þes eorðsele, eal ic eom oflongad,
sindon dena dimme, dūna ūphēa …
Alt ist diese Erdhalle; ich bin von Sehnsucht erfüllt.
Die Täler im Dämmer, die Berge so hoch …
Die Linie vibrierte immer stärker, doch das, was sie verklebte, löste sich nicht.
»Claire«, kam es aus Coinneachs Kehle.
»Sie ist meine Mom, okay? Also komm jetzt, ich nehme dich mit nach Hause.«
Die Devora schrie wieder, und dieses Mal klang es erschreckend nah. Der Ring der Apfelbäume erschien Ken mit einem Mal wie eine Falle. Sie mussten hier raus. Die Zeit lief ihnen davon.
Die Risse am Himmel entzündeten sich ohne Vorwarnung. Grünes und gelbes Licht flutete die Nacht, so hell, dass er sich die Augen mit den Händen schützen musste. Die Helligkeit sickerte durch seine Finger, brannte sich durch seine Lider und ebbte abrupt wieder ab. Sekundenlang sah er nichts, außer einem bunten Flimmern. Nur langsam kehrten die Konturen zurück. Coinneach stand vornübergebeugt, beide Hände vors Gesicht gepresst. Wind kam auf, heftige Böen, und zerzauste das Apfellaub. Gewitterwind. Ein Geruch wie nach einem elektrischen Kurzschluss breitete sich aus.
Das war nicht gut.
Als der Fayeí sich aufrichtete, ging sein Blick durch Ken hindurch und richtete sich auf einen Punkt hinter ihm. Erschrocken fuhr Ken herum. Halb erwartete er, dass ein Spalthund im Unterholz auftauchte. Doch außer den Zweigen, die gegeneinanderrieben, war dort nichts. Dennoch schrie alles in ihm Alarm. Eine feine Gänsehaut überzog ihm die nackten Arme.
Er konnte hier nicht länger herumstehen und mit diesem Verrückten diskutieren, egal ob es nun sein Vater war oder nicht. Wenn er nicht auf der Stelle zurück in die Festung floh, würde er als Hundefutter enden. Denn wusste er, ob Coinneach einen Finger zu seiner Verteidigung rühren würde? Oder ob dieser Penner Lieder sang, während die Spalthunde nach seinen Gliedern schnappten?
Er bückte sich nach einer sandigen Stelle und hob eine Handvoll Steine auf. Wenn er sich wirklich den Weg freikämpfen musste, dann brauchte er Munition.
»Wir müssen los!« Im Aufrichten packte er Coinneach am Arm. »Jetzt sofort!«
Der Fayeí stand reglos wie ein Fels und starrte weiter ins Leere. Zwischen seinen Fingern rollte er die Haarspange hin und her. Frustriert und den Tränen nahe ließ Ken ihn los. Es fühlte sich an, wie einen Bus zu verpassen, wenn man mit den Fingerspitzen noch am Lack der Tür
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