Purpurdämmern (German Edition)
Augen trieb. »Es tut mir so leid, Marielle. Glaub mir, es fällt mir nicht leicht, dich auf dem Altar politischen Kalküls zu opfern, und ich würde …« Er stockte. Sein Daumen glitt über ihr Handgelenk. Sein Griff wurde fester. Er drehte ihren Arm herum.
Ihr blieb fast das Herz stehen. Der letzte Rest ihres Mutes verflüchtigte sich zu Nebel. Sie wagte nicht einmal, sich nach Nessa umzusehen.
»Was ist das?«, fragte Eoghan.
»Ein Siegel.« Ihre Zunge hatte sich von einem Moment auf den anderen in Holz verwandelt.
Er ließ sich Zeit dabei, es zu betrachten. Seine Augen saugten sich am Farbwirbel fest. Auf seiner Stirn bildete sich eine Falte. »Du hast dich mit Newan verlobt?« Überraschung trat in seinen Blick. Unverständnis. »Heimlich?«
Sie fühlte sich versucht, schweigend den Kopf zu senken. Ihn in dem Glauben zu lassen, sie hätte sich heimlich mit dem teiggesichtigen Enkel der übermächtigen Königinmutter Maebh das Versprechen gegeben, aus Gründen romantischer Dummheit. Sie fürchtete sich davor, ihm zu widersprechen. Doch wenn sie sich jetzt in ihre Feigheit ergab, würde das böse Erwachen umso schrecklicher ausfallen.
»Nein.« Ihre Zunge bewegte sich wie ein festgeklemmtes Mühlrad. »Nicht Newan.«
»Beleidige mich nicht mit einer offensichtlichen Lüge.« Er ließ sie los. »Ich erkenne das Königssiegel der Tuatha Avalâín, wenn ich es sehe.«
»Es gibt da einen Jungen.« Im Traum hätte sie sich nicht ausgemalt, dass es so grauenhaft werden würde. »Er war mit uns in Dämmer-Detroit und ich finde ihn nett. Ich mag ihn sehr.« Zu ihrem Entsetzen lief sie auch noch rot an. Ihr wurde bewusst, dass sie ihn viel mehr mochte als nur ein bisschen und dass dieses Gefühl beständig anwuchs, seit sie sich in Kern-Detroit getrennt hatten.
Seit er euch sitzengelassen hat, flüsterte die andere Hälfte ihres Geistes. Nein, das passte nicht zu Ken. Sicher war ihm etwas dazwischengekommen. Vielleicht hatte er auch so eine Familie, die ihn in seinem Zimmer einsperrte, wenn sie glaubte, ihn für einen Fehltritt bestrafen zu müssen. Wenn sie diese Audienz überlebte, musste sie unbedingt zurück in seine Welt und ihn suchen.
Ihr Vater sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren.
»Es ist das Königssiegel«, wiederholte er.
»Der Vater dieses Jungen ist Coinneach ap Morda, der erstgeborene Sohn von Maebh.«
»Unmöglich. Coinneach ist tot.«
»Ist er nicht. Ich habe ihn gesehen.«
Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Bist du dir sicher?«
»Ich denke schon.«
»Bei Sarrakhans Macht.« Er fuhr herum und machte zwei lange Schritte zurück zum Tisch, als musste sich seine plötzliche Erregung in Bewegungsdrang entladen. »Wenn das wahr ist … weiß Santino davon?«
Santino. Es durchzuckte sie wie ein Speerstich. Der Grund, aus dem sie überhaupt hergekommen war.
»Vater«, murmelte sie. »Da gibt es noch etwas, was ich dir sagen muss. Etwas Schreckliches.«
Er stützte sich auf der Tischplatte ab. »Ich bin ganz Ohr.«
Sie holte tief Luft. »Santino hat uns verraten.«
Eine Arrestzelle.
Ken stützte die Ellbogen auf den Knien ab und starrte die Schrammen in der Türfarbe an. Das passte genau ins Bild, das Mrs Prescott sich von ihm machte. Einmal kriminell, immer kriminell. Pat würde sich totlachen, könnte er ihn so sehen. Und Dad? Er war sich nicht einmal sicher, ob der alte Säufer ihm die Nase blutig schlagen, oder ihm anerkennend auf die Schulter klopfen würde, wenn er hier rauskam.
Ohne richterlichen Beschluss konnten sie ihn nicht endlos lange festhalten, und morgen früh würde sich klären, was sie wirklich gegen ihn in der Hand hatten. Flanders und Roosevelt schienen überzeugt davon zu sein, dass er mit seinem Bruder unter einer Decke steckte und ihnen belastende Details verheimlichte.
Es war zum Heulen. Diese beiden Idioten verschwendeten ihre Energie an eine Nullnummer wie ihn, statt sich auf die Suche nach den wirklich schweren Jungs zu machen. Zum Beispiel die Kumpels von Hakennase, die frei draußen herumspazierten und kleinen Ladenbesitzern die Hölle heißmachten. Wenn alle Cops so drauf waren wie die beiden, war es kein Wunder, dass Leute wie McKinney ungestraft ihr Unwesen treiben konnten.
Dank Santino würde wenigstens Hakennase auf absehbare Zeit keinen Schaden anrichten. Er schnaubte. Es ausgerechnet ihm anzuhängen, war lächerlich. Er musste kein Anwalt sein, um zu wissen, dass die These mit der verschwundenen Tatwaffe nicht sehr plausibel war.
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