Purpurdämmern (German Edition)
fröhlicher Trubel, als hätte niemand etwas von den Ereignissen im Palast mitbekommen. Die Händler der van Erlen-Karawane waren dabei, ihre Stände abzubauen, die Waren in Kisten zu verpacken und alles auf Pferdewagen zu verladen. Während er zwischen schwitzenden Lastenträgern und Zimmerleuten hindurchschlenderte, hielt Santino Ausschau nach Sergej, konnte den arkhesinischen Händler aber nirgends entdecken.
Doch etwas anderes zog seine Aufmerksamkeit auf sich. An der Rückseite des Platzes, bei den Kräuterküchen huschte ein Mann in die enge Gasse zwischen der Farhyn-Aphotheke und dem alten Heumagazin. Die Strahlen der tief stehenden Sonne enthüllten nur seine Silhouette, aber Santino erkannte ihn trotzdem.
Felím.
Was hatte der hier zu schaffen? Eoghan hatte den Grafen bis zum Ablegen der Schiffe unter Arrest gestellt, doch er musste sich der Aufsicht seiner Wachen entzogen haben. Und hatten sie ihn nicht schon einmal beobachtet, wie er hier herumschlich, genau an der gleichen Stelle, als Santino mit Marielle über den Markt gestreift war und nichts die bevorstehende Katastrophe ahnen ließ? Ein Ziehen regte sich in seinem Magen, das Gefühl, etwas Wichtigem auf der Spur zu sein. Er wich den Kindern aus, die Fangen zwischen den Buden spielten, und schlüpfte an einem roten Wagen vorbei in den Hohlweg, in den Felím eingetaucht war.
Die Gasse war ein Stichweg, nur zwei Häuser tief, der vor einer Mauer endete. Auf der anderen Seite schäumte der Fluss. Die Mauer war viel zu hoch, um sie ohne Hilfsmittel zu erklimmen.
Santino verfiel in Trab. Ein Gefühl der Dringlichkeit trieb ihn plötzlich an. Das Abendrot vergoldete die Dächer und die oberen Fenster der Apothekengebäude. Ein Teppich gelber Blüten dämpfte seine Schritte und weitere rieselten von den Gold-Jacarandas herab. In seiner Nase kitzelte ein Geruch nach Zimt und heißem Metall. Obwohl die Arbeiter auf dem Platz einen Heidenlärm veranstalteten, hing hier eine stille Schwere in der Luft, die alle Geräusche dämpfte. Felím war nirgends zu sehen. Es gab keine Türen in den Hauswänden, also wohin war er gegangen?
Direkt vor der Mauer spürte Santino den vertrauten kupfrigen Geschmack auf der Zunge. Ein Portal. Aber wo? Hastig blickte er sich um. An der linken Hauswand ragte ein Balkon in den Hohlweg hinaus. Kletterwinde überwucherte die Brüstung, ein zartes hellgrünes Gewächs mit Sternblüten. Die Ranken hingen auf beiden Seiten so tief herab, dass er sie mit den Fingerspitzen berühren konnte. Von den Enden der Ranken führten spinnwebdünn Fäden herab, die am Boden festgesteckt waren. Da war es, das Portal. Es schwang genau vor seiner Nase, im Rahmen, den Balkonbrüstung und Fäden bildeten. Was war der Schlüssel? Er rief sich die Begegnung von vor ein paar Tagen erneut ins Gedächtnis. Santino hatte etwas in der Hand gehalten, einen Ball aus grünem Papier. Santinos Blick schweifte über die Fenster der Apotheke, die von innen mit grünen Papierbögen verklebt waren. Wirklich? Konnte es so einfach sein?
Er stürmte um die Ecke und riss die Ladentür auf. Hinter der Theke im dämmrigen Innern stand ein junger Fayeí. »Guten Tag, mein Herr, was kann ich –«
Santino wartete das Ende der Begrüßung nicht ab, sondern sprintete mit zwei langen Schritten zum Fenster. Die Bögen erwiesen sich bei näherer Betrachtung als nicht aus Papier, sondern aus gewachstem Seidenstoff gefertigt. Er riss einen davon ab und knüllte ihn zu einer Kugel zusammen, so wie er sie in Felíms Hand gesehen hatte.
»Aber Herr«, protestierte der Verkäufer. »Ihr könnt doch nicht einfach …«
»Was kostet das?«
»Zwei Purpurlinge.«
»Schreibt sie an!«, warf Santino ihm zu.
Der Protest des Verkäufers wurde von der Tür abgeschnitten, die hinter ihm ins Schloss fiel. Die Unruhe in seinem Innern war zu einem Fieber angewachsen. Er wusste nicht einmal, was das genau war, das diesen Instinkt in ihm zum Lodern brachte. Ob blinde Rachsucht für die Schmerzen, die Felím ihm in der Kerkerzelle zugefügt hatte, oder etwas Größeres. Er wusste nur, dass er keine Zeit verlieren durfte, egal, wie sehr seine Glieder nach Erholung schrien.
Das Portal verblasste bereits, doch als er mit dem zerknüllten Stück Wachsstoff unter den Balkon trat, lief ein Ruck durchs Gewebe. Die Ränder züngelten nach dem Schlüssel. Santino machte einen weiteren Schritt. Plötzliche Kühle empfing ihn, ein Herzschlag Dunkelheit. Dann dämmriger Halbschatten und Modergeruch.
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