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Purpurdämmern (German Edition)

Purpurdämmern (German Edition)

Titel: Purpurdämmern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
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Arme zu laufen. Jetzt war er sich nicht mehr so sicher. Physische Schmerzen, die war er gewöhnt, damit wusste er umzugehen. Aber den Verstand zu verlieren, das war etwas anderes. Ob Mom sich so fühlte? Ihm wurde schlecht bei der Vorstellung.
    Er ließ das Gras hinter sich und lief die bröcklige Dalzelle Street hinunter. Seine Schuhsohlen verursachten kurze, trockene Echos auf dem Asphalt. Wenigstens das Haus sah so heruntergekommen aus wie immer. Nie hätte er erwartet, sich über den Anblick zu freuen. Atemlos stürzte er die drei Holzstufen hinauf und fummelte nach dem Schlüssel in der Hosentasche. Bis er bemerkte, dass die Tür einen Spalt offen stand.
    Er stieß sie ganz auf und zuckte zusammen, als ein Vogel an ihm vorbeischoss, der sich nach drinnen verirrt hatte. Stille und brütende Schwüle lasteten im Korridor. Es war finster, Dad hatte die Wachsvorhänge zugezogen. Der Fernseher schwieg. Seltsam.
    Leise schlich er die Diele hinunter und spähte ins Wohnzimmer. Dunkelheit, kein Laut, nicht einmal Schnarchen. Und jetzt, wo seine Sinne sich an die Umgebung anpassten, fiel ihm auf, dass der Geruch nicht stimmte. Es müffelte wie in Roosevelts Warehouse. Staub, Vogelkot, Schimmel und Feuchtigkeit.
    In plötzlicher Hektik tastete er nach dem Lichtschalter, doch nichts geschah. Die Sorge, dass Dad aus seinem Rausch aufwachen und Amok laufen könnte, verblasste vor einem neuen, abgründigen Entsetzen. Er stürmte zum Fenster und riss die Vorhänge auf.
    Messingfarbenes Licht flutete einen Raum, den seit mindestens zehn Jahren niemand mehr betreten hatte. An den Wänden wucherten Moosflechten. Schimmelflecken blühten auf den Tapeten. Die Dielen waren voller Sand und in der hinteren Ecke schwarz verkohlt. Das Zimmer stand leer.
    Nur ein einzelnes Buch lag auf dem Boden, aufgeschlagen, die Hälfte der Seiten herausgefetzt.
Auf Taliesins Spuren.
Das Buch aus Roosevelts Warehouse, in dem er gestern Abend noch herumgeblättert hatte. Verdammt, wie kam das denn hierher? Mit tauben Fingern hob er ein Blatt auf, zur Hälfte durchgerissen, das mit dem keltischen Weltenbaum bedruckt war. Ein Gedicht umfloss die Zeichnung.
    Heht mec mon wunian on wuda bearwe,
    under āctrēo in þām eorðscræfe.
    Eald is þes eorðsele, eal ic eom oflongad,
    sindon dena dimme, dūna ūphēa …
    Sie hießen mich, in einem Waldhain zu leben,
    unter einem Eichenbaum, in jener Erdhöhle.
    Alt ist diese Erdhalle; ich bin von Sehnsucht erfüllt.
    Die Täler im Dämmer, die Berge so hoch …
    Moms Lieblingsgedicht, das sie vorn in ihre Bibel geschrieben hatte. Er halluzinierte. Er verlor den Verstand. Das war die einzige Erklärung.
    Er taumelte aus dem Haus und irrte die Straße hinunter, ohne bewusst wahrzunehmen, wohin ihn seine Schritte lenkten. In seinem Kopf tobte ein Eissturm. Seine Gefühle kauerten froststarr in einem dunklen Winkel seines Herzens. Er konnte nicht einmal weinen. Etwas Schreckliches war geschehen, ein unbegreiflicher Albtraum, der mit einem Kuss begonnen, in einer blutigen Prügelei seine Fortsetzung gefunden hatte und hinter jeder Ecke noch schlimmere Überraschungen bereithielt.
    Er hatte alle Zimmer durchsucht, vom Keller bis zum Dachboden. Er hatte ihre Namen gebrüllt, bis er heiser war. Mom. Dad. Marty. Schwarz angelaufene Wände warfen seine Rufe zurück. Das Haus stand leer. Eine faulende Ruine. Im Schlafzimmer hatte eine Birke Wurzeln geschlagen und war mit dem Wipfel zum Fenster hinausgewachsen.
    Gesang ließ ihn innehalten.
    Er fand sich im verwilderten Nachbarsgarten wieder, erinnerte sich jedoch nicht, wie er hierhergeraten war. Vor ihm erhob sich der Hügel mit den Apfelbäumen. Die Strahlen der tief hängenden Sonne vergoldeten den Hain und flirrten wie Diamanten durchs Apfellaub.
    »Mom?«, brüllte er, von jäher Hoffnung beseelt. »Mom!«
    Ohne Rücksicht brach er durchs Unterholz. Zweige zerkratzten ihm den Nacken und verwüsteten seine Locken. Unter seinen Füßen federten Blätter. Die vertrocknete Krone eines umgestürzten Baums ragte in die kleine Wiese.
    Sie saß auf dem Stamm, halb verdeckt vom Astwerk, den Rücken ihm zugewandt. Das Abendlicht fing sich in ihrem Haar und ließ es weißblond leuchten. Erleichterung überwältigte ihn. »Mom!«
    Der Gesang brach ab. Sie wandte den Kopf.
    Und er erkannte, dass es gar nicht seine Mutter war, sondern ein Engel.
    Oder jedenfalls sah er wie einer aus.
    Es war ein Mann, der zwischen den trockenen Ästen hockte. Mit einer Hand strich er sein Haar

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