Purpurdämmern (German Edition)
nicht, wo meine Mutter steckt? Oder warum die ganze Welt verrückt geworden ist?«
Coinneach regte sich nicht, abgesehen vom unablässigen Spiel seiner Finger.
Ken wandte sich ab und bahnte sich durch Gestrüpp und hohes Gras den Weg zurück zur Straße. Vorm glutroten Horizont tanzten die Silhouetten der Kormorane.
An den Mauerresten, die das Grundstück begrenzten, entdeckte er die gleichen aschfarbenen Kletterpflanzen, die auch das Depot überwucherten. Riesige purpurne Blüten prangten zwischen dem Grau. Siedend heiß fiel ihm ein, dass sein Rucksack immer noch im Depot lag. Brieftasche und Handy trug er zwar in den Jackentaschen, aber im Rucksack befanden sich seine Bücher und die Unterlagen für den AP -Test. Verdammt noch mal. Verdammt. Er war so durcheinander gewesen, dass er einfach vergessen hatte, ihn mitzunehmen. Na ja, geschah ihm recht, wenn jemand ihn klaute. Passte ja irgendwie zum Tag.
Aus der Ferne näherten sich Motorengeräusche. Nicht ein Wagen war das, sondern drei oder vier, hochgezüchtete Maschinen. Der Lärm wirkte vertraut und erinnerte ihn an Pats Gang. Instinktiv wich er hinter ein Stück Mauer zurück.
Ein Militär-Jeep rollte in sein Blickfeld. Über den Sound der Motoren legten sich Drums, wie der französische Hip Hop, den Sean dauernd hörte. Ein Dodge Magnum mit schwarz getönten Scheiben folgte, ein VW Jetta und am Ende der Kolonne ein antikes Chevy Cabrio mit Büffelhörnern auf dem Kühlergrill.
Die Typen in den Autos waren zwar nicht die Jungs von Pat, gehörten aber zur gleichen Sorte. Hartäugige, großmäulige Halsabschneider, die sich großartig dabei fühlten, Vorstadtfamilien und kleine Ladenbesitzer einzuschüchtern.
Auf dem Rücksitz des Cabrios erspähte Ken eine Frau. Ihre Locken leuchteten in der Dämmerung wie das Engelshaar des Penners. Wie bei dem Mädchen im Depot. Schrecken rieselte ihm in die Glieder. Er renkte sich den Hals aus, um einen besseren Blick zu erhaschen. Als sie vor der Kreuzung hielten, konnte er sehen, dass sie gefesselt war. Ein breiter Streifen Klebeband knebelte ihren Mund. Um ihre Schultern bauschten sich weiße Federn.
Es
war
das Mädchen aus dem Depot. Marielle, hatte Santino gesagt. Ihr Name war Marielle.
Mit ihrem Kuss hatte das ganze Desaster begonnen. Ihm kam eine verrückte Idee. Vielleicht war es wie im Märchen und sie musste ihn erneut küssen, um die Katastrophe rückgängig zu machen. Okay, kein guter Scherz, schalt er sich. Zumindest aber konnte er sie fragen, was geschehen war. Und was er tun sollte, um in die Normalität zurückzufinden.
Theoretisch.
Wenn er es schaffte, sich an den Ghetto-Schlägern vorbeizuschleichen.
Sie hatten sich in der Mercury Bar eingenistet, einen Block von der Dalzelle Street entfernt. Ken schlich sich durch den verwilderten Garten der Hotelruine, der direkt ans Grundstück der Bar grenzte. Seine Entschlossenheit geriet ins Wanken, als er sah, wie viele es waren.
Auf dem Hinterhof parkten ein Dutzend Autos, und draußen auf der Straße noch mal drei, eins davon war das Cabrio mit den Büffelhörnern. Von Marielle keine Spur.
Vor den Türen zum Mercury’s und am Fuß der Feuertreppe lungerten Wachen mit kurzläufigen Maschinenpistolen herum, die sie nicht einmal unter den Jacken versteckten. Als ob ihnen kein Cop der Welt etwas anhaben könnte. Vielleicht hatte das, was das Roosevelt Warehouse verschlungen hatte, auch alle übrigen Regeln außer Kraft gesetzt. Er vermutete, dass sie Marielle im Innern des Gebäudes gefangen hielten, wahrscheinlich in einem der oberen Zimmer.
Auf der Kreuzung vor der Bar loderte ein hohes Feuer. Betonschwellen blockierten die Zufahrten, sodass die Wagen nur einzeln passieren konnten.
Mit Einbruch der Dunkelheit schwoll der Wind zum Sturm an. Die Böen rissen Funken aus der Glut und rüttelten an den Feuertreppen. In der Ferne kündigte sich mit Blitzen und Donnergrollen ein Gewitter an.
Ein Pick-up näherte sich und wurde von zwei Bewaffneten gestoppt. Fassungslos beobachtete Ken, wie der Fahrer einem der Gangster einen Packen Dollarscheine in die Hand drückte. Die kassierten Wegzoll! Während der Pick-up über die Kreuzung rollte und dem Feuer auswich, tauchte von der Michigan Street her ein einzelner Mann in einem knielangen schwarzen Mantel auf.
Santino.
Natürlich, er suchte nach Marielle. Kein Wunder, dass er den Weg hierher gefunden hatte. Aber wollte er sich mit der ganzen Bande anlegen? Unwillkürlich hielt Ken Ausschau nach Nessa, konnte
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