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Purpurdämmern (German Edition)

Purpurdämmern (German Edition)

Titel: Purpurdämmern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
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habe?«
    »Magie. Ist es dir je passiert, dass du versehentlich die Fenstervorhänge abgefackelt hast, weil du wütend warst? Oder dass du Gegenstände verschoben hast, ohne sie zu berühren?«
    »Hören Sie, ich –« Er verstummte. Zwecklos, mit einem Verrückten zu argumentieren. Er wusste, dass er ungerecht war und Dankbarkeit zeigen sollte, aber die Erschöpfung forderte ihren Tribut. Die Welt fühlte sich an wie eine verschobene Schablone, gleichzeitig fremd und vertraut. Ein paar Sekunden lang beobachtete er einen Schwarm Krähen, der hoch unter den Wolken seine Kreise zog. Oder nein, keine Krähen, dafür waren sie zu groß. Kormorane? Sein Blick glitt weiter zum verlassenen Roosevelt Warehouse, in dem Zehntausende von Büchern verrotteten, die niemals ausgeliefert worden waren. Doch anstelle der vertrauten, staubbraunen Ziegelfassade schimmerte dort leerer Horizont. Er blinzelte. Das Bild veränderte sich nicht. Das Lagerhaus von der Größe einer Parkgarage war …
verschwunden
!
    Wie angenagelt blieb er stehen.
    Er wusste, dass es vorhin noch da gewesen war. Er wusste es genau. Erst vorgestern hatte er in den Bücherbergen herumgestöbert und den Bildband über keltische Mythologie mit ins Depot genommen. Es war unmöglich, ein Gebäude, das einen ganzen Block umfasste, in zwei Tagen abzureißen.
    »Stimmt was nicht?«, fragte Santino.
    »Es ist verschwunden!« Kens Lippen bebten so sehr, dass er kaum Worte formen konnte.
    »Was?«
    Angst und Verwirrung und die Schmerzen unzähliger kleiner Prellungen auf seinem Leib explodierten in einer wütenden Eruption. »Das Roosevelt Warehouse! Vorhin war es noch da, jetzt ist es verschwunden! Wie kann ein Gebäude einfach verschwinden? Und dieses Gras, die Bäume –« Er holte tief Atem.
    Das ist ja interessant,
wisperte eine Stimme so dicht an seinem Ohr, dass er erschrocken herumfuhr.
    Da war nichts. Nur die Katze, die zu ihm aufblickte.
    Der böse, böse Magier hat dich in die Dämmerschatten gelockt und dir verschwiegen, was dich erwartet?
    »Santino!«, keuchte er. »Was ist das?«
    »Ich habe dir gesagt, sie kann sprechen.« Santinos gelangweilter Tonfall war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
    Die Wut in Ken schwoll zu einem Zyklon, der seine Beherrschung in Stücke riss. Er hatte es satt, herumgeschubst zu werden. Wieso glaubte jeder, er könnte sich auf seine Kosten amüsieren?
    Es war keine bewusste Bewegung, nur gewalttätiger Instinkt. Mit beiden Fäusten packte er Santinos Mantelaufschläge. Hitze floss seine Finger hinab und kribbelte ihm unter den Nägeln, wie zuvor bei den Hunden.
    »Nicht!« Auf Santinos Stirn traten die Adern hervor, seine Wangenmuskeln verkrampften sich. »Lass los!«
    »Hör mal«, fauchte Ken, »nur dass du’s weißt, ich bin nicht in der Stimmung für blöde Scherze!«
    » LOSLASSEN !«
    Santinos Stimme verwandelte sich in einen Donnerhall, der Ken ins Gesicht traf wie ein Fausthieb und ihm die Worte im Mund erstickte. Er ließ nicht los, senkte aber den Blick auf seine Hände.
    Seine Haut glühte.
    Nicht einfach nur rötlich, wie bei einem Sonnenbrand. Nein, sie strahlte von innen heraus, ein weißes Pulsieren. Die Adern leuchteten heller als das umgebende Gewebe. Da, wo die Finger den Mantel berührten, breitete sich ein Netz goldener Linien auf dem Leder aus.
    Okay, es
war
ein Traum. Das konnte nur ein Traum sein.
    Nun lass ihn schon los,
schnurrte die Stimme.
Oder willst du, dass er in Flammen aufgeht?
    Der Gestank verbrannter Haut stieg ihm in die Nase. Erschrocken löste er seinen Griff und taumelte zurück.
    »Danke«, knurrte Santino. Er blickte zur Katze hinab. »Dann gibt es also doch ein Tor?«
    Sonst wärst du nicht hier, o du Ausbund an Gelehrsamkeit.
    Ken gelangte zu der Überzeugung, dass er den Verstand verlieren würde, wenn er nur eine Sekunde länger in der Gesellschaft von Santino und der sprechenden Katze verbrachte. Jede Faser seines Körpers verlangte nach Flucht. Also fuhr er herum und stürmte los.
    Fort, nur fort von diesem Verrückten. Zuerst machte er energische, weit ausgreifende Schritte, dann rannte er. Um ihn herum erhob sich ein böiger Wind. Flüsternd rieb das Gras aneinander. Er blickte nicht zurück. Sein Herzschlag hämmerte ihm in den Ohren, seine Handflächen brannten. Er wusste nicht, was mit ihm geschah, doch es machte ihm Angst. Als Hakennase und die anderen Schläger ihn einkreisten, da hatte er geglaubt, dass es nichts Schlimmeres geben konnte, als ihnen in die

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