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Purpurdämmern (German Edition)

Purpurdämmern (German Edition)

Titel: Purpurdämmern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
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zurück. Die Strähnen flossen durch seine Finger wie gesponnenes Licht. Der Anblick faszinierte Ken so sehr, dass er ihn sogar seine Enttäuschung vergessen ließ. Der Mann besaß ein perfekt proportioniertes Gesicht, wie die Märtyrer auf italienischen Renaissance-Gemälden, mit dem gleichen Ausdruck duldsamer Traurigkeit. Seine Pupillen ähnelten denen des geheimnisvollen Mädchens aus dem Depot, zwei Seen aus Amethyst, in denen Goldflecken schwammen.
    Nur seine Kleidung passte nicht zum Rest der Erscheinung. Aus Jeans von undefinierbarer Farbe ragten nackte Füße. Sein schmutziges T-Shirt hatte Risse. Um die Schultern lag ihm eine Indianerdecke, die Fransen zu unförmigen Klumpen geronnen.
    »Hey«, stieß Ken hervor. »Guten Tag. Sind Sie – ähm – schon lange hier?
»
    Haben Sie gesehen, was mit unserem Haus passiert ist,
wollte er eigentlich fragen. Doch er brachte die Worte nicht über die Lippen. Als ob sie, wenn er sie aussprach, besiegelten, dass das, was um ihn geschah, die Wirklichkeit war.
    Der Mann legte den Kopf schräg, kniff die Lider zusammen und runzelte die Stirn, als müsste er ein schwieriges Rätsel lösen. In einer Hand hielt er eine Kette mit einem Medaillon, das er um die Finger zwirbelte. Immer wieder, ein monotones Klingeln, Messing auf Messing.
Ffrringg
.
    »Verstehen Sie mich?«, fragte Ken.
    »Ja.« Der Mann sprach mit melodischer Stimme, die viel tiefer klang, als zuvor beim Singen.
    »Was machen Sie hier?«
    »Ich bin Coinneach, der Erstgeborene. Ich suche etwas, das mir abhandengekommen ist.« Ein verlorener Ausdruck trat in die goldfleckigen Augen. »Wenn ich mich nur erinnern könnte.«
    Großartig, noch ein Verrückter. Ken schluckte eine scharfe Erwiderung herunter und zwang sich zur Freundlichkeit. »Wissen Sie, was mit dem Haus dort drüben ist?«
    »Ich kann den Eingang nicht finden.«
Ffrringg
. Das Medaillon wirbelte herum wie Kolibriflügel. »Es ist der richtige Ort, aber die falsche Zeit.«
Ffrringg
.
    Kens Hoffnung sank. »Ich suche meine Mom, okay? Vielleicht haben Sie sie gesehen. Sie heißt Claire O’Neill, sie ist ziemlich klein und zierlich und hat blonde Locken bis hier«, er hielt sich die Hand an den Oberarm, »und sie trägt altmodische Sachen.«
    Ffrringg
. Das Medaillon löste sich aus Coinneachs Fingern und landete im Gras. Im Reflex bückte sich Ken, um es aufzuheben.
    »Claire?« Aus dem Mund des Mannes klangen die Silben wie Honig. »Daran erinnere ich mich.«
    Ken warf einen Blick auf das Porzellanporträt in seinem dünnen Silberrahmen und versteinerte mitten in der Bewegung.
    »Claire.« Coinneach verfiel wieder in seinen Singsang. »Claire.
Wo wandelst du, Claire

    Moms feine Züge lächelten von der Miniatur herab. Ungläubig starrte Ken das Medaillon an. Es bestand kein Zweifel. Ihre Locken waren an der Seite mit Spangen zurückgesteckt, auf denen rosa und hellgrüne Emaille-Blumen prangten. Ken kannte die Dinger. Mom bewahrte sie in ihrer Schmuckschachtel auf und legte sie nur für den Kirchgang an.
    »Wo haben Sie das her?«, fuhr er Coinneach an.
    »Sie heißt Claire«, flüsterte der Mann.
    »Wo steckt sie?«
    »Das Haus ist voller Geister. Ich finde den Eingang nicht.« Er streckte die Hand aus. »Gib es zurück.«
    Ken zögerte einen Moment, dann legte er das Medaillon in Coinneachs Handfläche. Es gehörte ihm nicht. Er hatte kein Recht, es zu behalten.
    Ffrringg
. Coinneach nahm das Spiel wieder auf und ließ die Kette um seine Finger kreiseln. Sein Blick verlor den Fokus und richtete sich auf einen fernen Punkt, so als hätte er vergessen, dass Ken überhaupt vor ihm stand.
    Inzwischen war die Sonne so tief gesunken, dass sich blaue Schatten zwischen den Bäumen sammelten. Die Nacht dämmerte herauf, und Ken hatte nicht die geringste Ahnung, was er tun sollte. Seine Rippen taten ihm weh, die Handflächen brannten. Er verspürte Hunger. Binnen einer Stunde hatte die Jahreszeit sich verändert, ein ganzes Gebäude war verschwunden und sein Elternhaus hatte sich in eine leer stehende Ruine verwandelt. Der einzige Mensch weit und breit war ein geistesgestörter Penner, der im Nachbargarten campierte, eine Brosche mit dem Porträt seiner Mutter herumtrug und aussah wie ein Engel von Caravaggio. Und was, wenn noch mehr von diesen tollwütigen Wölfen die Gegend durchstreiften? Wie hatte Santino sie genannt?
Spalthunde
. Der Name klang Furcht einflößend.
    »Tja«, sagte er, »ich geh dann mal wieder.«
    Ffrringg
.
    »Und du weißt sicher

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