Purpurschatten
Palmezzano zum erstenmal begegnete, hätte ihn auch für einen Schöngeist, aber nicht für einen brutalen Mörder halten können. Daß beides auf ihn zutraf, war wohl das Verblüffendste an diesem Mann. ›Assassino‹ konnte ebenso geistvoll über das Cinquecento diskutieren wie auf den Abzug einer Waffe drücken. Wenn er auf dem letztgenannten Gebiet tätig war, verwandelte sich sein sonst so sanftes Gesicht in Sekundenbruchteilen in eine häßliche, hinterhältige Visage, die einen das Fürchten lehrte.
Giuseppe Palmezzano blinzelte in die Frühlingssonne, und ein glückliches Lächeln huschte über seine vollen Wangen. Mit zusammengekniffenen Augen ließ er den Blick über den Vorplatz schweifen. Er hatte ihn ganz anders in Erinnerung. In der linken Hand trug er ein hochformatiges, schmales Paket, in der rechten eine ausgebeulte Reisetasche, und er machte einen ziemlich ratlosen Eindruck.
Kein Wunder nach fünfzehn Jahren und sieben Tagen!
Palmezzano hatte schon nicht mehr daran geglaubt, in die Freiheit entlassen zu werden. Denn nach drei Jahren Aufenthalt hatte er einen Wärter, der sich über seine einzige Leidenschaft lustig gemacht und ihn verspottet hatte, mit einem Faustschlag niedergestreckt, daß dieser mit einem Kieferbruch in die Klinik eingeliefert werden mußte. Aber Giuseppe konnte es nun einmal nicht ausstehen, wenn man ihn nicht ernst nahm. Denn ›Assassino‹ war ein Genie.
Er fühlte sich dem griechischen Künstler Apelles verwandt, der als größter Maler der Antike galt und Weintrauben so realistisch zu malen vermochte, daß die Menschen danach griffen. Palmezzano konnte das auch, doch seine größte Begabung lag im Kopieren alter Meister. Und diese Fähigkeit war es, die ihn in gewissen Kreisen beliebt, in anderen jedoch gefürchtet gemacht hatte; kurz, Giuseppe war in seiner Vielfalt eine höchst seltsame Erscheinung und selbst für römische Verhältnisse ein Unikum.
Der Fahrer des Taxis, der gelangweilt auf Kundschaft wartete und den Blick starr auf das Gefängnistor gerichtet hielt, machte einen Fehler, denn er fragte Palmezzano, als der auf ihn zusteuerte: »Kannst du die Fahrt auch bezahlen, Kumpel?«
Da setzte Giuseppe sein Gepäck auf der Straße ab, trat auf den Fahrer zu und sagte mit jenem furchteinflößenden Gesichtsausdruck: »Wenn du mich das noch einmal fragst, gehst du bald mit Schuhen aus Beton auf dem Grund des Tiber spazieren, capito ?«
Dem Fahrer fuhr der Schreck in die Knochen. Er beeilte sich, das Gepäck des Fahrgastes in seinem Wagen zu verstauen. Dann fragte er verschüchtert: »Wohin darf ich Sie …«
»Via Banco Santo Spirito«, unterbrach ihn Palmezzano. »Und den Preis bestimme ich.« Dann sagte er während der ganzen Fahrt nichts mehr.
Bevor Giuseppe Palmezzano auf den Klingelknopf unter dem Schild mit dem Namen ›Fasolino‹ drückte, rückte er sein Sakko, das deutliche Anzeichen einer früheren Mode zeigte, noch einmal zurecht.
Ein junger Diener öffnete, tat sehr vornehm und fragte, wen er melden dürfe.
Palmezzano schob den Diener beiseite und sagte: »Mach hier keinen Aufstand und kümmere dich um mein Gepäck, Kumpel.« Dann trat er in den düsteren Vorraum.
»Wo ist Fasolino?« fragte Giuseppe, als der Diener sich ängstlich mit dem Gepäck näherte.
»Ich werde ihn sofort herbeiholen«, beeilte er sich zu antworten.
Es dauerte nicht lange, und Fasolino erschien aus dem Hintergrund. Er erkannte Giuseppe sofort.
»Du?« sagte er geschockt. »Ich dachte, du sitzt lebenslänglich!«
Palmezzano grinste. »Das war vielleicht so vorgesehen. Aber dann haben die Herren es sich doch anders überlegt.«
»Mein Gott.« Erst jetzt begriff Fasolino die ganze Tragweite dieses Ereignisses. Giuseppe Palmezzano war frei. Und so ihm, Fasolino, nicht eine schleichende Krankheit sämtliche Erinnerungen aus dem Hirn getilgt hatte, wußte Palmezzano mehr als genug, um sie alle hochgehen zu lassen. Fasolino spürte, wie ihm die Knie weich wurden.
»Ich kann doch für ein paar Tag hier bleiben?« fragte Giuseppe ganz selbstverständlich. »Ich komme auf direktem Weg vom Knast hierher und weiß noch nicht, wie es weitergehen soll. Kein Geld, keine Wohnung. Du verstehst?«
»Natürlich!« erwiderte Fasolino hastig und versuchte, Ruhe zu bewahren. »Selbstverständlich kannst du bei uns bleiben. Aber wäre ein Hotel in der Stadt nicht vielleicht doch abwechslungsreicher …?«
Palmezzano trat näher an Fasolino heran. »Du willst nicht, daß ich bleibe,
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