Purpurschatten
Sie.«
»Es war nicht so gemeint«, lenkte Juliette ein. Und nach einer Pause: »Sie sind Schriftsteller, nicht wahr?«
Der Dicke nahm einen tiefen Schluck Rotwein, und sein bärtiges Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Sagen wir so, ich versuche dem Anspruch eines Schriftstellers gerecht zu werden. Mein Name ist Sperling, Paul Sperling.«
»Juliette Collin.«
»Angenehm. Sie machen Urlaub in Rom?«
»Urlaub? Nein, so würde ich es nicht ausdrücken. Ich habe geschäftlich hier zu tun.«
Paul Sperling beugte sich mit der ganzen Masse seiner Erscheinung zu Juliette hinüber und musterte sie ziemlich unverschämt. »Lassen Sie mich raten«, meinte er schließlich, »Sie haben in Ihrem Beruf mit Kunst zu tun, Musik oder Malerei.«
Juliette zuckte unwillkürlich zusammen. Woher kannte sie der Mann? Wußte er noch mehr über sie?
»Wie kommen Sie darauf, Herr Sperling?«
»Es ist nur eine Vermutung. Sie beruht auf langer Lebenserfahrung. Wissen Sie, einem Boxer steht Brutalität ins Gesicht geschrieben, ein Pfarrer kann selbst im Bordell eine gewisse Frömmigkeit nicht verbergen, und eine Anwältin strahlt auch auf dem ausgelassensten Fest Korrektheit aus.«
»Finden Sie?« erwiderte Juliette. »Haben Sie denn schon mal einen Pfarrer im Bordell gesehen?«
»Mehr als einen. Und in Ihrem Gesicht erkenne ich soviel Harmonie, wie sie nur in der Musik oder der Malerei zu finden ist. Sollte ich mich irren?«
»Nein, Sie irren sich nicht.«
»Also Musik?«
»Nein, Malerei. Ich bin Kunsthändlerin.«
»Sehen Sie?« Sperling grinste selbstzufrieden.
»Und Sie sind also Schriftsteller«, sagte Juliette, während sie beim Ober zahlte und sich erhob, um die Trattoria zu verlassen. »Was schreiben Sie denn?«
»Historische Romane. Sie spielen meist im alten Rom und handeln von Liebe, Laster und Leidenschaft. Aber Sie können noch nichts von mir gelesen haben. Bisher habe ich nur für die Schublade gearbeitet. Ich lebe seit dreißig Jahren in Rom. Das Leben in einer anderen Stadt könnte ich mir gar nicht vorstellen. Aber das liegt wohl daran, daß ich in Rom gezeugt wurde. Meine Eltern haben ihre Hochzeitsreise nach Rom gemacht. Neun Monate später brachte meine Mutter Zwillinge zur Welt. Mein Zwillingsbruder lebt ebenfalls in Rom.«
»Das ist ja erstaunlich.«
»Nicht so sehr, wie es den Anschein hat. Es gibt eine Theorie, die besagt, daß es den Menschen stets an den Ort seiner Zeugung drängt. Mein Bruder, zum Beispiel, wollte unbedingt nach Rom, da er schon in jungen Jahren Papst werden wollte.«
Juliette lachte über diesen vermeintlichen Witz, verstummte jedoch abrupt, als Sperling fortfuhr:
»Aber er hat es im Vatikan nur bis zum Kurienkardinal gebracht.« Sperling lachte, daß sein dicker Bauch wabbelte. Er reichte Juliette eine orangefarbene Visitenkarte mit Namen und Telefonnummer. »Aber jetzt will ich Sie nicht länger aufhalten. Bitte, meine Karte. Für den Fall, daß Sie mal einen kundigen Führer durch Rom benötigen sollten. Und grüßen Sie Ihren Mann, Signora!«
»Woher wollen Sie wissen, daß ich verheiratet bin?« fragte Juliette erstaunt.
Sperling strich sich lächelnd mit der Hand über seinen Kinnbart. »Ach wissen Sie, dazu gehört nun wirklich nicht viel. Zum einen sind Frauen wie Sie immer verheiratet. Andererseits habe ich Ihnen ja erklärt, daß jeder Mensch sein Schicksal in seiner Physiognomie spazieren trägt.«
»Und in meinem Gesicht lesen Sie, daß ich verheiratet bin.«
»So ist es. Ich wage sogar zu behaupten, daß Sie ziemlich glücklich verheiratet sind.«
Wenn du wüßtest, dachte Juliette.
Ihr war zum Heulen zumute.
Es war kurz vor 23 Uhr, als Juliette im Albergo Waterloo eintraf. Brodka lag bereits im Bett.
Juliette hatte sich gleich mehrere Ausreden zurechtgelegt, warum sie ohne Anmeldung kam; doch sie verhaspelte sich beim Reden, zupfte imaginäre Falten an ihrer Kleidung zurecht und konnte ihre Nervosität nicht verbergen.
Schließlich faßte Brodka sie an den Oberarmen und zog sie nahe an sich heran.
»Was ist los?« fragte er. »Du bist ja völlig durcheinander.«
Juliette hätte die Wahrheit sagen können, aber dazu fehlte ihr der Mut. Deshalb erwiderte sie – und diese Antwort war nicht einmal gelogen: »Die Sache mit meinem Mann hat mich zu sehr mitgenommen. Ich sehe dauernd sein Bild vor mir, festgeschnallt in einem Rollstuhl. Stumm. Bewegungslos.« Sie schauderte. »Als säße er auf einem elektrischen Stuhl, bereit für die Hinrichtung.
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