Purpurschatten
alles nicht nur einbildete, ob ihm seine Sinne nach den Anspannungen der letzten Tage nicht bloß einen Streich spielten. Vielleicht sah er Gespenster. Mein Gott, was war los mit ihm?
Juliettes Stimme holte Brodka in die Wirklichkeit zurück. »Wenn Hinrich hier aufkreuzt, hat das nichts Gutes zu bedeuten. Er ist noch nie zu einer Vernissage gekommen. Herrgott, was soll ich tun? Ich kann ihn doch nicht rausschmeißen! Aber ich kenne diesen Gesichtsausdruck. Es wird nicht lange dauern, und er wird randalieren wie ein besoffener Penner. Mein Gott, es sind Leute aus der Münchner Gesellschaft hier – und welche von der Presse. Wenn er so weitermacht, ruiniert er sich selbst und seine Klinik – und mich dazu!«
Noch während sie redete, begann Collin die Gäste bereits mit lallenden Worten zu beschimpfen. Juliette trat auf ihren Mann zu und redete besänftigend auf ihn ein. Gleichzeitig versuchte sie, den Betrunkenen in den hinteren Büroraum zu drängen.
Brodka beobachtete die Szene zunächst aus einiger Entfernung, doch als Collin sich immer ungestümer wehrte, wild mit den Armen wedelte und schließlich auf Juliette einzuschlagen drohte, kam er ihr zu Hilfe, packte den schwankenden Mann am Arm und zerrte ihn gemeinsam mit Juliette in den hinteren Raum.
Dort wankte Collin zu einem Sessel und ließ sich erschöpft hineinfallen. Sein Kopf sank zur Seite; sein Körper wurde schlaff. Er gab noch ein paar unverständliche Laute von sich und schlief schließlich ein, wobei er schnarchend durch den weit geöffneten Mund atmete.
Kurz vor Mitternacht, als die letzten Besucher gegangen waren, hoben Brodka und Juliette den immer noch laut schnarchenden Mann auf den Rücksitz ihres Wagens. Juliette wollte nicht, daß Brodka sie begleitete, doch der bestand darauf. »Dein Mann ist volltrunken«, sagte er. »Ich fahre mit dir. Außerdem … wie willst du ihn allein ins Haus bringen?«
Die Fahrt nach Bogenhausen, im Osten der Stadt, wo Collin und seine Frau eine luxuriöse Villa bewohnten, verlief ziemlich schweigsam. Brodka saß am Steuer. Immer wieder warf er einen Blick in den Innenspiegel, hielt den Betrunkenen im Auge, der ab und zu ein Grunzen von sich gab. Nach einer Weile sagte Juliette mit gedämpfter Stimme: »Jetzt hast du ihn kennengelernt. Jetzt weißt du, mit wem ich seit fünfzehn Jahren zusammenlebe.«
Brodka legte den Zeigefinger auf den Mund zum Zeichen, daß sie lieber schweigen solle.
»Ach was«, erklärte Juliette. »Der ist vor morgen früh nicht ansprechbar.«
»Und morgen früh?«
»Nimmt er einen kräftigen Schluck aus der Pulle und ist wieder völlig klar. Für ihn ist das normal.«
»Normal?« Brodka schüttelte den Kopf.
»Er ist Alkoholiker, kein gewöhnlicher Säufer, der ab und zu einen über den Durst trinkt und einen heiligen Eid schwört, das Saufen sein zu lassen, wenn ihm hundeelend ist. Nein, dieser Versager« – dabei zeigte sie mit dem Daumen auf den Rücksitz – »ist süchtig. Ohne seinen Stoff kann er gar nicht mehr leben.«
»Und seine Arbeit?«
»Als Arzt hat er einen hervorragenden Ruf. Viele Chirurgen hängen an der Mineralwasserflasche.«
»An der Mineralwasserflasche?«
»Ja, sie haben ständig eine mit Schnaps gefüllte Mineralwasserflasche bei sich.«
Brodka lachte auf. »Und ich dachte, Journalisten sind die größten Trinker vor dem Herrn.«
»Das kann ich nicht beurteilen«, antwortete Juliette, »aber es stellt sich natürlich die Frage, wer dabei mehr Schaden anrichten kann.«
Sie dirigierte Brodka von der Hauptstraße in einen schmalen, von dürren Hecken gesäumten Weg zu einer Einfahrt. Wie von Geisterhand öffnete sich ein halbhohes, braunes Holztor, und automatisch schaltete sich die Hausbeleuchtung ein. Vor der grünen Eingangstür, die mit Messingbeschlägen verziert war, hielt Brodka den Wagen an.
Während Juliette die Tür aufschloß, faßte Brodka den Professor unter den Armen und zog ihn aus dem Wagen. Noch bevor Juliette ihm zu Hilfe eilen konnte, schleifte er den Besinnungslosen ins Haus und wuchtete ihn auf eine Couch in der Wohnhalle.
Dabei erwachte Collin kurz aus seiner Bewußtlosigkeit.
Über den Goldrand seiner Brille warf er Brodka einen spöttischen Blick zu, wobei er ein paar unverständliche Worte lallte, die sich anhörten wie: »Gut gemacht, mein Junge.«
Dann fiel er wieder in tiefen, alkoholseligen Schlaf.
Juliette nahm ihrem Mann die Brille ab und zog ihm die Schuhe aus, kümmerte sich ansonsten aber nicht weiter um
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