Qiu Xiaolong
Zhang hatte er nicht gerade viel zu besprechen, aber wann hatte er das je gehabt? Er rief ihn von einer öffentlichen Telefonzelle aus an, doch der Kommissar war nicht im Büro. Yu blieb also ein politischer Vortrag des alten Herrn erspart. Erleichtert machte er sich auf den Heimweg.
Zu Hause war niemand. Auf dem Tisch lag ein Zettel: »Bin mit Qinqin zu einem Treffen in seiner Schule gegangen, wärm dir das Essen auf.«
Mit einer Schüssel Reis und geröstetem Entenfleisch ging er in den Hof, wo er seinen Vater, den Alten Jäger, traf.
»Ein kaltblütiger Vergewaltigungs- und Mordfall«, meinte der Alte Jäger stirnrunzelnd.
»Unserem Parteisekretär zufolge könnte der Fall auch einen politischen Hintergrund haben.«
»Hör mir mal gut zu, mein Sohn«, sagte der Alte Jäger. »Erzähl mir nichts von politischer Bedeutung! Ein altes Pferd kennt seinen Weg, wie es in einem Sprichwort heißt. Wenn so ein Mordfall nicht in den ersten zwei oder drei Wochen gelöst wird, dann wird er wahrscheinlich nie aufgeklärt werden, Politik hin oder her.«
»Aber wir als Sondergruppe müssen uns darum kümmern.«
»Ihr mit eurer Sondergruppe! Die wäre eher gerechtfertigt, wenn es sich um einen Serienmörder handelte!«
»Das denke ich auch die ganze Zeit, aber die Leute dort droben wollen uns keine Ruhe lassen, vor allem Kommissar Zhang nicht.«
»Hör mir bloß mit eurem Kommissar auf! Seit dreißig Jahren nervt der alle. Ich bin mit ihm nie klargekommen. Warum dein Oberinspektor die Ermittlungen durchziehen will, kann ich allerdings gut verstehen. Das hat sehr wohl etwas mit der Politik zu tun.«
»Er ist politisch sehr geschickt.«
»Versteh mich bitte nicht falsch«, sagte der Alte. »Ich habe nichts gegen deinen Chef, im Gegenteil, ich halte ihn für einen sehr gewissenhaften jungen Beamten. Wer den Kopf in den Wolken hat, muß die Beine auf der Erde haben – das zumindest weiß er genau. Ich war lange genug bei der Polizei, um Leute beurteilen zu können.«
Nach diesem Gespräch blieb Yu noch eine Weile allein im Hof und rauchte. Die Asche stippte er in die leere Reisschüssel, auf deren Boden die Entenknochen ein Kreuz formten.
Er zündete sich mit dem Ende seiner Zigarette die nächste an und dann noch eine, bis die Zigarette, zwischen seinen Fingern zitternd, fast wie eine Antenne wirkte, verzweifelt bemüht, aus dem Abendhimmel ein paar Informationen zu empfangen.
8
AUCH OBERINSPEKTOR CHEN war an jenem Morgen sehr beschäftigt gewesen. Schon um sieben Uhr früh hatte er sich mit Kommissar Zhang im Amt getroffen.
»Ein schwieriger Fall«, meinte Kommissar Zhang zustimmend, nachdem Chen ihn über den Stand der Dinge informiert hatte. »Aber wir dürfen keine Mühen und auch den Tod nicht scheuen.«
Scheut keine Mühen und auch nicht den Tod – eine der oft zitierten Parolen des Vorsitzenden Mao während der Kulturrevolution. Jetzt erinnerte Chen dieser Spruch an ein verblaßtes Plakat, das von der Mauer eines verlassenen Gebäudes gerissen wird. Zhangs lange Jahre als Kommissar hatten ihn in eine Art Echo verwandelt. Er war ein alter Politiker, der sich nicht mehr auf die neue Zeit einstellen konnte. Dabei war er keineswegs ein Dummkopf. In den Vierzigern, so hieß es, sei er einer der brillantesten Studenten an der Vereinigten Universität des Südwestens gewesen.
»Ja. Sie haben recht«, sagte Chen. »Ich werde mir heute morgen Guans Wohnheim ansehen.«
»Das ist wichtig. Vielleicht findet sich in ihrem Zimmer ein Hinweis«, sagte Kommissar Zhang. »Berichten Sie mir ausführlich darüber.«
»Selbstverständlich.«
»Auch Hauptwachtmeister Yu soll sich mit mir in Verbindung setzen.«
»Ich werde es ihm ausrichten.«
»Und was kann ich tun?« fragte Zhang. »Ich will nicht nur als Ratgeber fungieren.«
»Aber wir kümmern uns bereits um alles, was am Anfang einer Ermittlung steht. Hauptwachtmeister Yu befragt Guans Kollegen, ich werde ihr Zimmer durchsuchen und mit ihren Nachbarn sprechen, und wenn ich danach noch Zeit habe, werde ich ihre Mutter im Pflegeheim besuchen.«
»Dann gehe ich ins Pflegeheim. Sie ist ja auch schon alt, vielleicht finden wir eine gemeinsame Gesprächsbasis.«
»Aber eigentlich müssen Sie gar nichts tun. Ein altgedienter Kader wie Sie muß sich doch wirklich nicht mit Routineermittlungen abgeben.«
»Bleiben Sie mir damit vom Leib, Genosse Oberinspektor«, sagte Zhang stirnrunzelnd und stand auf. »Gehen Sie jetzt zu Guans Unterkunft.«
Das Wohnheim lag an
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