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Qiu Xiaolong

Qiu Xiaolong

Titel: Qiu Xiaolong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tod einer roten Heldin
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geschlossen«, fuhr das lebende Lexikon unverdrossen fort. »Offiziell gibt es heute unter Chinas Himmel keine Prostituierten mehr. Diejenigen, die von ihrem Gewerbe nicht ablassen wollten, wurden in Umerziehungslager gesteckt. Die meisten von ihnen machten einen Neuanfang. Ich glaube nicht, daß sie in ihrem alten Viertel hätten weiterleben wollen.«
    »Das glaube ich auch nicht.«
    »Gab es denn in dieser Gasse ein Sexualdelikt?«
    »Nein, ich suche nur eine Person, die dort wohnt«, sagte Chen. »Vielen Dank für Ihre Information.«
    Wie sich herausstellte, zweigte die Qinghe Lane genau neben dem Lebensmittelladen ab, in dem er kurz zuvor nach der Gasse gefragt hatte. Sie wirkte heruntergekommen und verfallen. Das erste Haus war mit einem Anbau aus Glas und Beton versehen worden, wodurch die Einmündung in die Gasse noch schmaler wurde. In den Obergeschossen hing Wäsche auf einem Netzwerk von Bambusstangen, was in der Maisonne wie eine impressionistische Malerei aussah. Dem Aberglauben zufolge verhieß es Pech, wenn man unter Spitzenunterwäsche hindurchlief, so, wie sie hier überall auf den Bambusstäben hing. Doch wenn er an die Vergangenheit dieser Gasse dachte, kam Oberinspektor Chen die Wäsche fast nostalgisch vor.
    Die meisten Häuser stammten aus den Zwanzigern, manche waren wahrscheinlich noch älter. Nummer 18 war gleich das erste Haus, das mit dem kleinen Anbau. Es hatte einen ummauerten Innenhof, Ziegeldächer und dicke, geschnitzte Holzbalken. Auf nahezu allen Balkonen hing Wäsche und tropfte auf die Gemüsehaufen und die alten Fahrradteile, die im Hof herumlagen. An der Tür des Anbaus hing ein rotes Plastikschild, auf dem in dick gepinselten Schriftzeichen auf den öffentlichen Telefondienst hingewiesen wurde. Drinnen saß ein alter Mann, umgeben von mehreren Telefonen und Telefonbüchern. Wahrscheinlich machte er nicht nur Telefondienst, sondern war auch der Hausmeister.
    »Guten Morgen«, sagte der Alte.
    »Guten Morgen«, erwiderte Chen den Gruß.
    Schon vor der Revolution war dieses Haus offenbar parzelliert worden, um möglichst viele Mädchen unterzubringen. In die einzelnen Zimmer paßte gewiß kaum mehr als ein Bett; daneben hatte es einige kleinere Nebenräume für Bedienstete oder Zuhälter gegeben. Wohl aufgrund dieser Raumaufteilung war das Haus nach 1949 in ein Arbeiterwohnheim umgewandelt worden, doch jetzt lebte in vielen dieser Zimmer eine ganze Familie. Was ursprünglich wohl einmal ein geräumiger Speisesaal gewesen war, in dem die Freier zur Freude der Prostituierten große Gelage veranstaltet hatten, war ebenfalls in mehrere Räume unterteilt worden. Bei näherer Betrachtung entdeckte man viele Zeichen der Vernachlässigung, die für solche Unterkünfte typisch waren: schlecht schließende Fenster, Risse in den Mauern, abblätternde Farbe und in allen Gängen der Gestank aus Gemeinschaftstoiletten. Offenbar gab es auf jeder Etage nur eine Toilette, wobei ein Viertel dieses Raums mit Plastikwänden als Duschbereich abgeteilt worden war.
    Chen kannte diese Art von Arbeiterheimen. In Shanghai gab es zwei Arten. Das eine waren reine Massenunterkünfte, in allen Räumen standen nur Betten oder Pritschen, meist sechs bis acht davon, und jedem Bewohner stand nicht mehr zu als der Platz für sein Bett. Meist lebten nur Junggesellen oder unverheiratete junge Mädchen in solchen Heimen und warteten darauf, von ihren Arbeitseinheiten ein Zimmer zugewiesen zu bekommen, um heiraten zu können; die Unterkunft in einem solchen Schlafsaal war also eine Art Zwischenlösung. Vor seiner Beförderung hatte Chen daran gedacht, sich eine solche Schlafnische zu besorgen, denn damit konnte man einen gewissen Druck auf die Kommission ausüben, die für die Vergabe von Unterkünften zuständig war. Er hatte sogar schon einen Antrag ausgefüllt, doch das Versprechen von Parteisekretär Li hatte ihn wieder davon abgebracht. Daneben gab es Wohnheime mit Einzelzimmern. Aufgrund des argen Wohnungsmangels hausten manche Leute oft noch mit Mitte, Ende Dreißig ohne Hoffnung auf ein eigenes Apartment in einem Schlafsaal. Als eine Art Kompromiß wurde dann denjenigen, die einfach nicht mehr länger warten konnten, ein Zimmer in einem der Wohnheime zugewiesen. Theoretisch stand man zwar weiterhin auf der Warteliste der Wohnungssuchenden, doch die Chance, jemals eine zu erhalten, war dann wesentlich geringer geworden.
    Guans Zimmer fiel offenbar in die zweite Kategorie. Es lag im zweiten Stock am Ende des

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