Qiu Xiaolong
heimgegangen? Oder vielleicht war sie irgendwie anders als sonst?«
»Nein. Mir ist jedenfalls nichts aufgefallen«, sagte Gu. »Aber in der letzten Zeit ändert sich alles so rasch: Unsere Kosmetikabteilung hatte früher nur zwei Theken, jetzt haben wir acht; und es gibt so viele unterschiedliche Produkte, viele davon aus Amerika. Natürlich ändern sich die Menschen ebenfalls, das gilt auch für Guan.«
»Könnten Sie mir das näher erklären?«
»An meinem allerersten Arbeitstag – vor sieben Jahren – hielt sie uns einen Vortrag, an den ich mich noch gut erinnere. Sie betonte, wie wichtig es sei, die Tradition der Partei – harte Arbeit, ein einfaches Leben – zu wahren. Damals legte sie großen Wert darauf, kein Parfüm zu benutzen und keinen Schmuck zu tragen. Aber vor ein paar Monaten sah ich sie mit einer Diamantenhalskette.«
»Ach ja?« sagte Yu. »Meinen Sie, daß sie echt war?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie. »Ich will damit nicht sagen, es sei ungebührlich gewesen, daß sie eine Halskette trug. Es ist nur einfach so, daß die Menschen in den neunziger Jahren anders sind. Und noch ein Beispiel: Letzten Oktober war sie in Urlaub, und kaum ein halbes Jahr später fuhr sie schon wieder in Urlaub.«
»Ja, das ist in der Tat auffällig«, meinte er. »Wissen Sie denn, wohin Sie letzten Oktober gefahren ist?«
»In die Gelben Berge. Sie hat mir Fotos davon gezeigt.«
»War sie allein unterwegs?«
»Ich glaube schon, auf den Fotos war jedenfalls immer nur sie zu sehen.«
»Und diesmal?«
»Ich wußte, daß sie in Urlaub gehen wollte, aber sie erzählte mir nicht, wohin oder mit wem«, sagte sie und blickte zur Tür. »Ich fürchte, mehr weiß ich nicht, Genosse Kriminalbeamter.« Damit verließ sie den Raum.
Obwohl es eine zentrale Klimaanlage gab, schwitzte Hauptwachtmeister Yu kräftig. Vertraute Anzeichen wiesen darauf hin, daß ihn bald schlimme Kopfschmerzen befallen würden, aber er mußte weitermachen. Auf seiner Liste standen noch fünf Namen. Doch die nächsten zwei Stunden brachten wenig Neues. Schließlich ging er alle seine Aufzeichnungen noch einmal durch.
Am 10. Mai war Guan wie üblich, also etwa um acht Uhr morgens, zur Arbeit gekommen. Ihren Kollegen und den Kunden gegenüber war sie so liebenswürdig wie immer gewesen, eine echte nationale Modellarbeiterin. Um zwölf Uhr hatte sie in der Kantine zu Mittag gegessen, später war sie zu einer politischen Routinesitzung des Kaufhauses gegangen, an der auch die anderen Parteimitglieder teilgenommen hatten. Ihren Kollegen gegenüber erwähnte sie, daß sie wegfahren wolle, sagte jedoch nichts von ihrem Urlaubsziel. Um fünf hätte sie heimgehen können, doch wie üblich arbeitete sie noch etwas länger. Etwa um halb sieben führte sie ein Telefonat. Danach verließ sie ihren Arbeitsplatz, wahrscheinlich ging sie nach Hause. Um etwa sieben Uhr wurde sie zum letzten Mal gesehen.
Das war nicht sehr viel, und Hauptwachtmeister Yu hatte das Gefühl, daß sich die Leute mit Ausnahme von Frau Weng ziemlich zurückhaltend über Guan geäußert hatten. Doch Frau Wengs Aussage war nichts, auf das er bauen konnte.
Die Mittagszeit war längst vorüber, und noch immer stand ein Name auf Yus Liste. Doch diese Frau war heute nicht am Arbeitsplatz erschienen. Um 14.40 Uhr verließ er das Kaufhaus. In einem kleinen Lebensmittelladen an einer Straßenecke kaufte er sich ein paar mit Schweinefleisch gefüllte Pfannkuchen. Peiqin hatte recht gehabt mit ihrer Sorge, daß er sein Mittagessen versäumen würde, doch jetzt hatte er keine Zeit, weiter über Ernährungsfragen nachzudenken. Zhang Yaqing, die letzte auf seiner Liste, wohnte in der Yunnan Zhonglu. Sie war Assistentin der Abteilungsleiterin und hatte sich an diesem Tag krank gemeldet. Einigen Angestellten zufolge hatte Zhang eine Weile als Guans Rivalin für den Posten der Abteilungsleiterin gegolten, hatte dann aber geheiratet und sich in ein ruhigeres Leben gefügt.
Hauptwachtmeister Yu kannte diesen Abschnitt der Yunnan Zhonglu recht gut. Vom Kaufhaus aus war es nur eine Viertelstunde zu Fuß. Nördlich der Jinling Donglu wandelte sich die Yunnan Zhonglu zu einer geschäftigen »Delikatessenstraße« mit einer Vielzahl von Snackbars und Restaurants, doch südlich war die Straße mehr oder weniger unverändert. Dort standen noch immer alte, baufällige Häuser aus den vierziger Jahren, und die Gehsteige waren zugestellt mit Körben, Herden und Gemeinschaftsspülbecken.
Er kam zu
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