Qiu Xiaolong
zwischen ihm und Ling geschehen war, stellte nach dem orthodoxen kommunistischen Kodex ebenfalls ein Beispiel »westlich-bürgerlicher Dekadenz« dar. Genaugenommen war es dasselbe Verbrechen, dessen man Wu angeklagt hatte – »dekadenter Lebensstil unter dem Einfluß westlich-bürgerlicher Ideologie«.
Oberinspektor Chen konnte sich natürlich viele beruhigende Dinge sagen – daß die Welt kompliziert ist, daß der Gerechtigkeit Genüge getan werden muß, daß das Interesse der Partei über alles geht und daß der Zweck die Mittel heiligt.
Aber wie er jetzt erkannte, war es so einfach nicht: Der Gebrauch bestimmter Mittel tangierte unweigerlich den Zweck.
»Wer gegen Ungeheuer kämpft, sehe zu, daß er nicht selbst zum Ungeheuer werde«, glaubte er bei Nietzsche gelesen zu haben.
Die Frage, die er sich stellen mußte, war: Wie hatte er es denn geschafft, den Fall zu einem so triumphalen Ende zu bringen? Auch nur durch Beziehung – sogar eine körperliche Beziehung – zur Tochter eines hohen Kaders.
Ironie des Schicksals!
Chen sah viele Ähnlichkeiten zwischen Guan, der nationalen Modellarbeiterin, und Chen, dem Oberinspektor. Die auffallendste war, daß sie beide eine Beziehung zu einem Prinzling gehabt hatten.
Nur gab es einen Unterschied.
Der Modellarbeiterin hatte ihre Liebe nicht viel Glück gebracht; denn Wu hatte ihre Zuneigung nicht erwidert. Vielleicht war sie ihm nicht ganz gleichgültig gewesen. Aber Politik und Ehrgeiz hatten den beiden im Weg gestanden.
Und wie stand es um seine eigenen Gefühle gegenüber Ling?
Es war nicht so, daß Oberinspektor Chen sie vorsätzlich und eiskalt ausgenutzt hätte. Aus Gerechtigkeit gegen sich selbst mußte er sich sagen, daß ihm ein derartiger Gedanke niemals in den Sinn gekommen war. Aber wie stand es um sein Unbewußtes?
Er war sich auch nicht sicher, daß es vergangene Nacht von seiner Seite nichts anderes als Leidenschaft gegeben hatte.
War es Dankbarkeit für ihre Hochherzigkeit gewesen?
In Peking waren sie einander nicht gleichgültig gewesen, aber dann waren sie doch voneinander geschieden – und er hatte diesen Entschluß nie wirklich bedauert. In all den Jahren hatte er oft an Ling gedacht, aber er hatte auch an andere gedacht, hatte andere Freunde gehabt – und Freundinnen.
Er würde niemals das Gefühl loswerden können, daß nichts durch seine eigenen Anstrengungen erreicht wurde. Ling würde nicht mehr zu diesem oder jenem Minister laufen und Chen als ihren Freund ausgeben müssen. Er selbst wäre zum Prinzling geworden. Und die Menschen würden sich darum reißen, vieles für ihn zu tun.
Im Augenblick war es zwecklos, ins Präsidium zurückzugehen. Er war nicht in der Stimmung, sich anzuhören, wie Parteisekretär Li den Leitartikel des Wenhui rezitierte. Aber auch nach Hause mochte er nicht gehen – allein, nach einer solchen Nacht.
Auf einmal merkte er, daß er den Weg zur Wohnung seiner Mutter eingeschlagen hatte.
Die Mutter legte die Zeitung nieder, in der sie gelesen hatte.
»Warum hast du denn nicht angerufen!«
Sie stand auf, um ihm Tee zu bringen.
»Wegen der Politik«, sagte er bitter. »Nur wegen der Politik.«
»Hast du Ärger im Büro?« Sie wirkte ratlos.
»Nein, nein, alles in Ordnung.«
»Meinst du mit Politik diese Tagung? Oder den Fall mit diesem Prinzling, der heute in den Schlagzeilen steht? Alle sprechen darüber.«
Er wußte nicht, wie er es ihr erklären sollte. Für Politik hatte sich seine Mutter nie interessiert. Er wußte auch nicht, ob er ihr von Ling erzählen sollte, obwohl sie das brennend interessiert hätte. So sagte er bloß: »Ich war für den Fall Wu zuständig, aber er ist nicht richtig abgeschlossen worden.«
»Hat nicht die Gerechtigkeit gesiegt?«
»Doch, schon. Einmal abgesehen von der Politik …«
»Ich habe mit ein paar Nachbarinnen gesprochen, und sie sind alle sehr zufrieden mit dem Ausgang des Prozesses.«
»Da bin ich aber froh, Mutter.«
»Überhaupt habe ich mir seit unserem letzten Gespräch ein paar Gedanken über deine Arbeit gemacht. Ich hoffe immer noch, daß du eines Tages den Weg deines Vaters gehen wirst, aber wenn du natürlich glaubst, du kannst etwas für unser Land bewirken, mußt du weitermachen. Es ist doch schon mal etwas, wenn es wenigstens ein paar anständige Polizisten gibt…«
»Danke, Mutter.«
Als er den Tee ausgetrunken hatte, ging sie mit ihm nach unten. In dem mit Herden und Kochutensilien vollgestellten Hausflur wurde Chen herzlich von Tante
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