Qiu Xiaolong
Ganges, gegenüber der Gemeinschaftstoilette. Die Lage war nicht unbedingt erstrebenswert, auch wenn die Nähe zur Toilette, die sich elf Familien teilen mußten, vielleicht sogar als Bonus zählte. Auf dem Gang stapelten sich Kohle, Kohl, Töpfe und Pfannen, vor den Türen standen Kohleöfen.
An der Tür hing ein Pappschild mit Guans Namen. Davor stand ein kleiner, staubiger Kohleofen, daneben lag ein Häufchen Briketts. Chen öffnete die Tür mit einem Dietrich. Drinnen häufte sich Post auf dem Fußabstreifer, mindestens sechs Ausgaben der Tageszeitung, eine Postkarte aus Peking von jemandem namens Zhang Yonghua und eine Stromrechnung, die ironischerweise mit der alten Adresse, Qinghe Lane, versehen war.
Das Zimmer war winzig.
Das Bett war gemacht, der Aschenbecher leer, das Fenster geschlossen. Nichts wies darauf hin, daß Guan vor ihrem Tod einen Gast bewirtet hatte, und es sah auch nicht so aus, als wäre hier jemand umgebracht worden – alles wirkte zu ordentlich, zu sauber. Die schweren, alten Möbel hatten früher offenbar ihren Eltern gehört, waren jedoch durchaus noch brauchbar: ein Bett, eine Kommode, ein großer Schrank, ein kleines Bücherregal, ein Sofa mit einem verblaßten roten Überwurf, ein Stuhl, der vielleicht auch als Nachttisch gedient hatte. Auf der Kommode ein winziger Fernseher, im Regal standen Wörterbücher, eine Auswahl der gesammelten Werke des Vorsitzenden Mao, eine Auswahl der gesammelten Werke Deng Xiaopings und noch einige weitere politische Pamphlete und Zeitschriften. Das Bett war nicht nur alt, sondern auch schmal und schäbig. Chen untersuchte es näher, es quietschten keine Federn, unter dem Laken war keine Matratze, nur ein Brett. Unter dem Bett stand ein Paar roter Hausschuhe; sie wirkten, als gäben sie der Leere des stillen Raums Halt.
An der Stirnseite des Betts hing ein gerahmtes Foto von Guan. Es zeigte sie bei einem Vortrag auf der dritten Tagung für nationale Modellarbeiter in der Großen Halle des Volkes. Im Hintergrund saß der Erste Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas und applaudierte zusammen mit ein paar weiteren hochrangigen Kadern. An der Wand über dem Sofa hing ein großes Porträt des Genossen Deng Xiaoping.
Im Papierkorb lagen nur ein paar zerknüllte Papiertaschentücher. Auf der Kommode standen eine verschlossene Flasche Vitamintabletten, mehrere Lippenstifte und einige Fläschchen ausländischen Parfüms sowie ein kleiner Spiegel in einem Plastikrahmen. Chen durchsuchte die Schubladen. In der obersten lagen diverse Einkaufsquittungen, ein paar unbeschriftete Briefumschläge und eine Filmzeitschrift, in der zweiten mehrere Fotoalben. Die dritte Schublade war vollgestopft mit unterschiedlichsten Dingen: ein Schmuckkästchen aus Lederimitat mit Modeschmuck, teuer wirkende Lotionen und Parfüms – vielleicht auch Proben aus dem Kaufhaus – sowie eine goldene Halskette mit einem mondförmigen Anhänger, eine Citizen-Armbanduhr, deren Zifferblatt mit glänzenden Steinen eingefaßt war, und eine Kette aus exotischen Tierknochen.
Das Wandschränkchen enthielt nur ein paar Gläser und Becher sowie ein paar schwarze Schüsseln und einige Eßstäbchen aus Bambus. Dies kam Chen durchaus einleuchtend vor. In diesem Raum konnte man keine größere Schar von Gästen bewirten; mehr als eine Tasse Tee hätte Guan ihren Besuchern nicht anbieten können.
Er öffnete eine Tür des Schrankes. Dahinter befanden sich einige Fächer, in denen sich Kleidung stapelte: ein dunkelbrauner Wintermantel, mehrere weiße Blusen und Wollpullover. In einer Ecke hingen drei Hosen, alle einfach geschnitten und in gedeckten Farben. Nicht unbedingt billig, aber doch sehr konservativ für eine junge Frau, fand Chen. Auf dem Boden des Schrankes standen ein Paar schwarze Schuhe mit hohen Absätzen, ein Paar Sportschuhe mit Gumminoppen sowie ein Paar Überschuhe.
Doch die andere Schrankseite barg eine Überraschung: Im obersten Fach lagen mehrere neue, hochwertige Kleider in modischen Mustern. Oberinspektor Chen kannte sich mit Mode nicht besonders aus, aber den auch ihm vertrauten Markennamen und den Preisschildern, die noch an den Kleidern hingen, entnahm er, daß es sich um teure Stücke handelte. In den Fächern darunter entdeckte er einen dicken Stapel Unterwäsche, die in Frauenzeitschriften wahrscheinlich als »romantisch«, ja vielleicht sogar als »erotisch« bezeichnet worden wäre. Zumindest war es die erotischste Wäsche, die er je zu Gesicht
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