Qiu Xiaolong
der Hubei Lu. Außer dem Kaufhaus Nr. 1 hatten dort noch mehrere andere Arbeitseinheiten Zimmer für ihre Angestellten. In Anbetracht ihres politischen Status hätte Guan etwas Besseres haben können, dachte Chen, vielleicht auch ein ganz normales Apartment wie sein eigenes. Aber vermutlich war sie gerade wegen solcher Dinge zur Modellarbeiterin gekürt worden.
Die Hubei Lu war eine kleine Straße zwischen der Zhejiang und der Fujian; nicht allzuweit in nördlicher Richtung lag die Fuzhou Lu, die einiges an Kultur zu bieten hatte, darunter mehrere bekannte Buchhandlungen. Doch auch in anderer Hinsicht lag die Unterkunft recht günstig: Der Bus Nr. 71, der direkt zum Kaufhaus Nr. 1 fuhr, war zu Fuß in zehn Minuten zu erreichen.
Chen stieg an der Zhejiang Zhonglu aus dem Bus und beschloß, noch ein wenig in dem Viertel herumzulaufen, denn auf so einem Spaziergang konnte man viel über dessen Bewohner erfahren, ganz wie in den Romanen von Balzac. Allerdings entschieden in Shanghai nicht die Menschen, wo sie wohnen wollten, sondern ihre Arbeitseinheiten. Das war Chen klar, aber trotzdem schlenderte er eine Weile herum und dachte nach.
Die Straße gehörte zu den wenigen in Shanghai, die noch gepflastert waren. Eine Vielzahl kleiner, schmutziger Seitenstraßen und Gassen zweigte von ihr ab. Kinder wirbelten von einer Gasse in die andere wie Papierfetzen, die vom Wind herumgetrieben werden.
Chen nahm sein Notizbuch zur Hand. Guan Hongyings Adresse lautete: Haus Nr. 18, Gasse 235, Hubei Lu. Doch er konnte die Gasse nirgends finden.
Er fragte mehrere Leute und zeigte ihnen die Adresse. Niemand schien von dieser Gasse je gehört zu haben. Die Hubei war keine lange Straße, in weniger als einer Viertelstunde war Chen von einem zum anderen Ende und wieder zurück gelaufen, ohne die Gasse gefunden zu haben. Schließlich versuchte er es in einem kleinen Lebensmittelladen an der Ecke, doch auch der alte Lebensmittelhändler schüttelte den Kopf. Ein paar junge Arbeitslose, ziemlich schäbige Gestalten mit dünnen Bärtchen und glitzernden Ohrringen, lungerten vor dem Laden herum und starrten Chen herausfordernd an.
Es war ein heißer, völlig windstiller Tag. Er überlegte, ob er sich die Adresse wohl falsch notiert hatte, und rief Kommissar Zhang an, der ihm jedoch nur sagen konnte, daß sie stimmte. Nach diesem Telefonat versuchte er sein Glück bei dem Genossen Xu Kexin, einem alten Bibliothekar, der seit über dreißig Jahren im Präsidium arbeitete und ein phänomenales stadtgeschichtliches Wissen hatte, was ihm den Spitznamen »Wandelnde Enzyklopädie« eingebracht hatte.
»Ich muß Sie um einen Gefallen bitten«, sagte Chen. »Ich befinde mich gerade in der Hubei Lu zwischen der Zhejiang und der Fujian und suche die Gasse 235. Die Adresse scheint korrekt zu sein, aber ich kann diese Gasse nicht finden.«
»Hubei Lu, hmm«, sagte Xu. »Vor 1949 war dieses Viertel ziemlich berüchtigt.«
»Wie bitte?« fragte Chen und hörte, wie Xu in einem Buch blätterte. »Was meinen Sie damit?«
»Na ja, ein Rotlichtviertel.«
»Was hat das mit der Gasse zu tun, die ich nicht finden kann?«
»Eine ganze Menge«, sagte Xu. »Diese Gassen hatten früher andere Namen, richtig berüchtigte Namen. 1949, nach der Befreiung, hat die Regierung die Prostitution abgeschafft und die Namen der Gassen geändert. Aber ich glaube, die Leute, die jetzt dort wohnen, benutzen der Einfachheit halber noch immer die alten Namen. Ja, Gasse 235, hier steht’s. Diese Gasse hieß früher Qinghe Lane, in den zwanziger und den dreißiger Jahren oder sogar noch früher gehörte sie zu den schlimmsten Ecken dieses Viertels. Dort waren die billigsten Huren zu finden.«
»Qinghe Lane? Komisch, klingt doch ganz normal.«
»Na ja, jedenfalls taucht er in der bekannten, von Tang Ren verfaßten Biographie Chiang Kai-sheks auf, aber vielleicht ist es auch ein erfundener Name. Damals hieß die Fuzhou Lu noch Fourth Avenue und war ein Rotlichtbezirk, zu dem auch die Hubei Lu gehörte. Einigen Statistiken zufolge lebten damals über siebzigtausend Prostituierte in Shanghai. Neben den Prostituierten, die eine staatliche Lizenz hatten, gab es eine Vielzahl von Barmädchen, Hostessen, Masseusen und Fremdenführerinnen, die sich heimlich oder auch nur gelegentlich prostituierten.«
»Ja, ich kenne diese Biographie«, sagte Chen. Allmählich wurde es Zeit, die »Enzyklopädie« wieder zuzuklappen.
»Im Zuge der Kampagne von 1951 wurden sämtliche Bordelle
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