Quadriga: Kriminalroman (German Edition)
frei. Denn gestern hatten sie seinen Jungen, den er
während der Schulferien zum Dreh mitgenommen hatte, als Leiche aus dem Canal Grande
gefischt.
Drei
»Ich hätte ihn nicht mitnehmen sollen
… Nicht nach Italien … Eine völlige Scheißidee! Eine Scheißscheißscheißidee!«, wütend
krachte seine Faust auf den gepolsterten Rücksitz des Taxis. Die Polsterung ließ
ein gedämpftes »Wampf!« vernehmen, sonst nichts. Außer dass die Knöchel seiner schmalen
Intellektuellenhände ganz weiß hervortraten, hinterließen die Faustschläge keinerlei
Eindruck. Als bleiche Witzfigur saß er im Fond des Taxis und ließ sich kreuz und
quer durch Marghera, das Hafenviertel von Venedig, fahren. Schließlich hatte er
ja einen Job. Locationsuche. Für den Dreh übermorgen musste er noch dringend eine
Location finden. Nachdem der Regisseur ihm schon ganze sieben Location-Vorschläge
abgeschossen hatte, war er nun unter Zeitdruck. Trauerarbeit? Scheiß drauf! Wut?
Scheiß drauf! Schmerz? Ein Brennen. Ein mörderisches Brennen. Sein Inneres brodelte,
und seine Ausbrüche kamen vulkanartig. Eruptionen der Hilflosigkeit. Oh, wie er
alles hasste. Dieses Land, die Leute, den Dreh, seine Arbeit, seine Familie. Warum
hatte seine Mutter an diesem Nachmittag unbedingt shoppen gehen müssen? Warum hatte
sein Vater wieder nur im Produktionsbüro gehockt und gerechnet? Warum hatte seine
Frau sich nicht von ihrem Job karenzieren lassen? Warum hatte sie ihn mit Johannes
alleine nach Italien fahren lassen? Warum musste ausgerechnet sein Sohn ermordet
werden? Warum wurden nicht alle Kindermörder verhaftet? Warum gab es eigentlich
Kinderschänder? Warum erlaubte Gott diese Schweinerei? Warum gab es überhaupt das
Böse in der Welt? Warum hatte Gott, der angeblich allmächtige, Luzifer nicht vernichtet?
Warum ließ er es zu, dass schwache Menschen der Versuchung erlagen? Warum wurden
nicht alle Sexualtäter kastriert? Warum nicht grundsätzlich liquidiert? Warum machte
denn niemand etwas zum Schutz der Kinder? Warum gab es nur zahnlose Gesetze? Warum
wurden nicht alle Perversen dieser Welt einfach ausgerottet? Warum, Herrgott, warum
strafst du diese Kreaturen nicht? Warum, oh Herr, lässt du endloses Leid zu? Warum
hast du deinen eigenen Sohn geopfert? Warum bist du ein Schlächter, Gott? Warum?
»Wampf!«,
machte seine schmale Intellektuellenfaust auf der Sitzpolsterung.
»Wampf!
Wampf! Wampf! Wampf!«
Nachdem
er sich ausgewampft hatte, sank er erschöpft zurück. Er bemerkte, wie ihn der Taxifahrer
im Rückspiegel beobachtete. Plötzlich rannen ihm die Tränen herunter. Sturzbäche
über die unrasierten, dunkelblau schimmernden Wangen. Philipp Mühleis versteckte
seine Augen hinter der rechten Hand. Heulen wie ein Schlosshund, das kann ich. Dachte
er. Sonst kann ich eh nix. Nichts, gar nichts! Ein Versager. Mit 37 Jahren immer
noch Anhängsel. Angestellt in der Filmproduktionsfirma seines Vaters, abhängig vom
Gehalt seiner gut verdienenden Frau. Die ihn aufgrund ihres ererbten Reichtums nach
Strich und Faden verwöhnte. Langsam rollte das Taxi durch die leeren, holprigen
Straßen. Links und rechts Fabrik- und Lagerhallen. Hin und wieder das düstere Stahlskelett
eines Schiffskrans. Verkrümmte, armselige Bäume. Struppige, nicht minder erbärmliche
Büsche. Endlose Mauern mit Graffiti. Zwischen den Mauern rostige Zäune. Manchmal
Stacheldraht. Überall Unkraut, teilweise über einen Meter hoch. Rumms! Wieder ein
Monsterschlagloch. Fast wäre er sich mit den Fingern ins Auge gefahren. Industrielandschaft.
Verschwommen hinter Tränen. Die Nase voll Rotz. Seine rechte Hand suchte ein Taschentuch.
Die linke fand es schließlich auf ihrer Seite. Teurer Stoff, sorgsam gebügelt und
liebevoll zusammengelegt. Zuerst schnäuzen, da keine Luft mehr. Dann mit einer fast
trotzigen Bewegung zuerst links und dann rechts die Sintflut wegwischen. Mehrmals,
da nicht auf einmal möglich. Dann klarer Blick. Rechts vor ihm befand sich eine
Lagerhalle. Darauf ein Riesengraffito:
Ti amo,
baby [3]
Vier
»Ciao, Lupino!«
Er hasste
ihn. Diesen Spitznamen. Ihn sowie einiges anderes Hassenswertes in seinem Leben
verdankte er seiner Mutter. Wie zum Beispiel die strahlend blauen Augen, die zu
seinem dichten, schwarzen Haar einen merkwürdigen Kontrast bildeten. Seine Mutter
hatte seinerzeit darauf bestanden, ihn Wolfgang zu taufen. In späterer Folge nannte
sie ihn dann Wölfchen und schließlich Lupino. Lupino Severino. Die wohlklingende
Phonetik dieses
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