Qual
die Welt, in der sie lebten, in eine unbegreifliche Traumwelt. Dann entzog sich die Technologie jeder Kontrolle, jeder Diskussion, so daß man ihr nur noch mit Verehrung oder Verachtung, mit Abhängigkeit oder Entfremdung begegnen konnte. Arthur C. Clarke hatte einmal gesagt, daß jede weit genug fortgeschrittene Technik nicht mehr von Magie zu unterscheiden sei – womit er sich auf die mögliche Begegnung mit einer außerirdischen Zivilisation bezog –, und deshalb mußte es die wichtigste Verantwortung eines Wissenschaftsjournalisten sein, alles zu tun, damit Clarkes Gesetz nicht auf das Verhältnis des Menschen zu menschlicher Technik zutraf.
(Hochfliegende Ideale… und ich saß hier und verkaufte Frankensteinologie, weil diese Nische ausgefüllt werden mußte. Ich beruhigte mein Gewissen – beziehungsweise betäubte es für eine Weile – mit Platitüden über trojanische Pferde und die Veränderung des Systems von innen.)
Ich übernahm die Illustrationen von Delphic Biosystems, die das Examin in Aktion zeigten, und wies die Konsole an, den überflüssigen Zierrat zu entfernen, damit deutlicher erkennbar wurde, was eigentlich geschah. Ich warf den überschwenglichen Kommentar hinaus und schrieb einen neuen. Die Konsole vokalisierte ihn mit dem Sprachprofil, das ich für die Erzählerstimme des gesamten Beitrags ausgewählt hatte, eine Stimme, die aus Passagen einer englischen Schauspielerin namens Juliet Stevenson geklont war. Dieses ›Standard-Englisch‹, das schon vor langer Zeit ausgestorben war und von keinem zeitgenössischen Briten mehr gesprochen wurde, wurde nach wie vor mühelos in der großen anglophonen Welt verstanden. Jeder Zuschauer, der eine andere Stimme hören wollte, konnte sie nach Belieben übersetzen lassen. Ich hörte mir des öfteren Programme an, die in den regionalen Dialekten synchronisiert worden waren, mit denen ich die größten Verständnisprobleme hatte – südöstliches Amerikanisch, Nordirisch und östlichzentrales Afrikanisch – in der Hoffnung, damit mein Ohr zu sensibilisieren.
Hermes – meine Kommunikationssoftware – war darauf programmiert, nahezu jeden Bewohner der Erde abzuweisen, während ich schnitt. Lydia Higuchi, die ausführende Produzentin der westpazifischen Sektion von SeeNet, war eine der wenigen Ausnahmen. Der Anruf kam zwar über mein Notepad, doch ich schaltete ihn direkt auf die Konsole. Der Bildschirm war größer und besser aufgelöst, und außerdem wurden die Aufschrift AFFINE GRAPHICS SCHNITTMODELL 2050-KL und ein Zeitcode in das Kamerabild gestempelt. Nicht sehr subtil, aber das sollte es auch gar nicht sein.
Lydia kam sofort zur Sache. »Ich habe deine Endfassung des Landers-Berichts gesehen«, sagte sie. »Sehr gut. Aber ich möchte über das reden, was als nächstes kommt.«
»Das HealthGuard-Implantat? Gibt es irgendwelche Schwierigkeiten?« Ich gab mir keine Mühe, meine Verärgerung zu verbergen. Sie hatte Ausschnitte der Originalaufnahmen gesehen, sie kannte meine gesamten Produktionsnotizen. Wenn sie größere Änderungen wollte, kam sie damit reichlich spät.
Sie lachte. »Andrew, immer mit der Ruhe. Nicht dein nächster Bericht in Gepanschtes DNS, sondern dein nächstes Projekt.«
Ich schaute sie an, als hätte sie beiläufig erwähnt, daß ich unverzüglich zu einem anderen Planeten reisen sollte. »Tu mir das nicht an, Lydia«, sagte ich. »Du weißt genau, daß ich im Augenblick keinen vernünftigen Gedanken zu irgendeinem anderen Thema fassen kann.«
Sie nickte mitfühlend, sagte jedoch: »Trotzdem gehe ich davon aus, daß du dich über diese neue Seuche auf dem laufenden gehalten hast. Inzwischen ist sie keine sporadische Randerscheinung mehr. Es gibt offizielle Meldungen aus Genf, Atlanta, Nairobi…«
Mein Magen krampfte sich zusammen. »Du meinst das Akute Klinische Angstsyndrom?«
»Auch bekannt unter der Bezeichnung Qual.« Sie schien sich das Wort auf der Zunge zergehen zu lassen, als hätte sie es längst in ihr Vokabular telegener Themen aufgenommen. Meine Stimmungskurve neigte sich besorgniserregend nach unten.
»Mein Datenmaulwurf sucht nach allem, was damit im Zusammenhang steht, aber ich habe keine Zeit gehabt, die aktuellen Meldungen zu verfolgen.« Und offen gesagt bin ich augenblicklich…
»Es gibt über vierhundert diagnostizierte Fälle, Andrew. Das ist ein Anstieg um dreißig Prozent in den vergangenen sechs Monaten.«
»Wie kann man etwas diagnostizieren, von dem man noch gar nicht weiß, was es
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