Qual
fortgeschafft worden war, hatte ich mir alle Mühe gegeben, mich selbst davon zu überzeugen, daß es überhaupt nichts Ungewöhnliches gewesen war. Irgendeine Art epileptischer Anfall oder ein psychotischer Koller, schlimmstenfalls eine Art von unerträglichem psychischem Schmerz, dessen Ursache rasch festgestellt und behandelt werden konnte.
Doch so war es keineswegs. Die Opfer der Qual hatten nur selten eine neurologische oder psychotische Vorgeschichte und wiesen keine Anzeichen einer Verletzung oder Infektion auf. Und niemand hatte auch nur die leiseste Ahnung, wie man mit der Ursache ihres Leidens umgehen sollte. Zur Zeit bestand die einzige ›Behandlung‹ in der kontinuierlichen Verabreichung starker Beruhigungsmittel.
Ich nahm mein Notepad auf und berührte das Symbol für Sisyphus, meinen Datenmaulwurf.
Ich sagte: »Ich benötige alle Daten über Violet Masala, die Einstein-Jahrhundertkonferenz und die Fortschritte auf dem Gebiet der Allgemeinen Vereinheitlichten Feldtheorie aus den letzten zehn Jahren. Ich muß das alles in etwa… einhundertzwanzig Stunden verdauen. Ist das machbar?«
Es gab eine kurze Pause, als Sisyphus die verfügbaren Quellen überprüfte. Dann fragte er: »Weißt du, was ein MST ist?«
»Ein Melatonin-System-Transmitter?«
»Nein. In diesem Kontext bezeichnet MST ein Modell sämtlicher Topologien.«
Der Begriff kam mir vage vertraut vor. Ich schätze, daß ich vor etwa fünf Jahren einen kurzen Artikel über das Thema gelesen hatte.
Es folgte eine weitere Pause, während das Programm nach weiterem Hintergrundmaterial suchte und es bewertete. »Einhundertzwanzig Stunden dürften genügen, um zuzuhören und zu nicken. Aber nicht, um intelligente Fragen zu stellen.«
Ich stöhnte. »Und wie lange…?«
»Einhundertfünfzig Stunden.«
»Also gut.«
Ich rief das Symbol für die Pharmaeinheit auf und sagte: »Meine Melatonin-Dosen müssen neu berechnet werden. Verlängere meine Phasen höchster Aufmerksamkeit um zwei Stunden pro Tag, und zwar ab sofort.«
»Bis wann?«
Die Konferenz begann am fünften April. Wenn ich bis dahin kein Violet-Mosala-Experte war, war alles zu spät. Aber ich durfte es nicht riskieren, mich aus dem aufgezwungenen Melatonin-Rhythmus reißen zu lassen – und in unregelmäßige Schlafphasen zu verfallen – wenn ich den Bericht filmte.
»Bis zum achtzehnten April.«
»Das wird dir noch leidtun«, sagte die Pharmaeinheit.
Das war keine vorprogrammierte Warnung, sondern eine Vorhersage, die sich auf eine fünf Jahre währende Beobachtung meiner biochemischen Daten gründete. Aber ich hatte eigentlich gar keine andere Wahl. Und wenn ich die Woche nach der Konferenz unter schweren Schlafstörungen litt, wäre das zwar unangenehm, aber es würde mich nicht umbringen.
Ich stellte ein paar Kopfrechnungen an. Irgendwie hatte ich es gerade geschafft, aus dem Nichts fünf oder sechs Stunden Freizeit herbeizuzaubern.
Es war Freitag. Ich rief Gina bei der Arbeit an. Regel Nummer sechs: Verhalte dich unberechenbar. Aber nicht zu oft.
Ich sagte: »Scheiß auf Gepanschtes DNS. Wollen wir tanzen gehen?«
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5
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Es war Ginas Idee, mitten in die Stadt zu fahren. Auf mich übten die Ruinen keinen besonderen Reiz aus – außerdem fand sich in der Nähe meines Hauses ein viel interessanteres Nachtleben – aber Regel Nummer sieben lautete, daß es sich nicht lohnte, deswegen zu streiten. Als der Zug in der Town-Hall-Station hielt und wir mit der Rolltreppe am Bahnsteig vorbeifuhren, auf dem Daniel Cavolini niedergestochen worden war, leerte ich meinen Geist und lächelte.
Gina hakte sich bei mir unter und sagte: »Hier ist etwas, das ich nirgendwo sonst spüre. Eine Energie, ein Vibrieren. Spürst du es nicht?«
Ich blickte mich um und betrachtete die schwarzweiß gekachelten, graffitiabweisenden und buchstäblich antiseptischen Wände.
»Nicht mehr als in Pompeji.«
Das demographische Zentrum von Groß-Sydney hatte seit mindestens einem halben Jahrhundert westlich von Parramatta gelegen – und mittlerweile vermutlich Blacktown erreicht –, doch der Zerfall der historischen Innenstadt hatte sich erst in den dreißiger Jahren bemerkbar gemacht, als Büroräume, Kinos, Theater, Kunstgalerien und öffentliche Museen mehr oder weniger zur selben Zeit obsolet geworden waren. Die meisten Wohngebäude waren zwar schon in den Zehnern mit Breitband-Glasfaserkabel ausgestattet gewesen, aber es hatte noch etwa zwei Jahrzehnte gedauert, bis die
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