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Quarantaene

Quarantaene

Titel: Quarantaene Kostenlos Bücher Online Lesen
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ausstehen, doch selbst diese schreckliche Begegnung, dachte Ray, erwies sich jetzt gewissermaßen als Initiationserfahrung. Sie zeigte, dass er fähig war, eine kühne, gegen alle Regeln verstoßende Tat zu begehen.
    Er war mit dem Bauplan der Alley so weit vertraut, dass er die zentrale Aufzugbatterie ausfindig machen konnte. Zwei der Fahrstühle standen leer, die Türen gingen auf und zu wie krampfhaft zuckende Augenlider.
    Die Erschütterung, die den Boden in Bewegung gebracht hatte, war abgeklungen. Ein Erdbeben in diesem Teil des Landes war zwar unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Ray bezweifelte jedoch, dass die Erschütterung von einem Erdbeben ausgelöst worden war. Irgendetwas ging dort unten vor, in den Tiefen des Auges.
    Die Nachtschicht hatte den Notfall einer Evakuierung offenbar gründlich geübt. Das Personal strömte jeweils in Zweiergruppen aus den Fahrstühlen, beunruhigt zwar, aber grundsätzlich gefasst, wahrscheinlich, weil sie sich sagten, dass das Beben aufgehört habe und die Evakuierung nur eine Formalität sei. Eine Frau mit durchdringendem Blick bemerkte Ray, der neben den Fahrstühlen stand, kam auf ihn zu und sagte: »Wir sollen auf direktem Weg zum Ausgang gehen, nicht nach unten ins Werk. Und auf keinen Fall sollen wir die Aufzüge benutzen.«
    Scheißflurüberwachung, dachte Ray. Er zückte den gestohlenen Generalausweis und sagte: »Verlassen Sie einfach das Gebäude so schnell wie möglich.«
    »Aber uns wurde gesagt …«
    »Falls Sie Wert darauf legen, Ihren Job zu behalten, gehen Sie jetzt. Anderenfalls geben Sie mir Ihren Namen und Ihre Dienstnummer.«
    Der Stimme der Autorität. Die Frau zuckte zusammen und entfernte sich beleidigten Blickes. Ray trat in den nächsten Fahrstuhl und drückte auf den Knopf fürs fünfte Untergeschoss, von wo aus die O/BEK-Galerie am besten zu erreichen war. Er ging davon aus, dass er einen gewissen Zeitrahmen zur Verfügung hatte, in dem er ungestört tätig werden konnte. Sobald das zivile Personal das Gebäude verlassen hatte, würde Schulgin eine Aufklärungsmannschaft hineinschicken, aber durch den Sturm würde dieser Ablauf extrem verlangsamt werden.
    Das Sirenengeheul vibrierte in den Fahrstuhlschächten. Er befand sich vier Stockwerke unterhalb der Prärie von Minnesota, als das Geheul erstarb, der Fahrstuhl zum Stillstand kam und die Lichter ausgingen.
    Stromausfall. In wenigen Sekunden würden die Notstromaggregate ihre Arbeit aufnehmen.
    Aber davon abgesehen, dachte Ray, müsste es nicht wenigstens eine Notbeleuchtung geben?
    Offenbar nicht. Die Dunkelheit war vollkommen.
    Er zog seinen Server aus der Tasche, doch selbst dieses Gerät hatte aufgehört zu leuchten. Es war, als ob er blind wäre.
    Für dunkle, abgeschlossene Räume hatte Ray noch nie etwas übrig gehabt. Er streckte die Hände aus, um sich zu orientieren. Er zog sich in eine Ecke des Fahrstuhls zurück, spürte die angrenzenden Wände zur Linken und Rechten. Die polierte Aluminiumoberfläche war kalt, glatt und unnachgiebig.
    Das wird nicht lange dauern, sagte er sich. Und falls der Stromausfall sich doch hinzöge, wäre das vor allem schlecht für die O/BEKs. Die Pumpen würden ausfallen, das flüssige Helium würde nicht mehr fließen, die Temperatur in den Zylindern über die kritische Marke steigen. Doch eine andere Stimme in seinem Innern hielt dagegen: Das Scheißding hat dich jetzt in seinen Klauen.
    Bleib ruhig, sagte er sich. Er war voller Gewissheit und mit einem Gefühl für die eigene Macht im Auge eingetroffen: Es waren unwiderrufliche Schritte gewesen, die ihn hergeführt hatten, angetrieben von seiner Überzeugung, dass die O/BEKs Ursache all dessen seien, was in Blind Lake schiefgelaufen war, aber das Gebäude hatte ihn seines Schwunges beraubt. Er war in einer Kiste eingesperrt, und sein Selbstvertrauen begann in der Dunkelheit zu versickern.
    Ich bin nicht um meinetwillen hier, dachte Ray, das galt es im Blick zu behalten. Er war hier, weil die leichtgläubigen Kinder, die man seiner Verantwortung unterstellt hatte, mit einem gefährlichen Apparat spielten, und er hatte die Absicht, dem ein Ende zu setzen, ob es ihnen gefiel oder nicht. Es war dies recht eigentlich eine selbstlose Handlung. Mehr noch: eine Handlung mit Erlösungscharakter. Ray hatte einen Fehler begangen vor Sue Sampels Haus, er war durchaus bereit, das einzugestehen. Er hielt sich einiges auf seine Bereitschaft zugute, Probleme realistisch zu analysieren. Vielleicht hatten sich

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