Quarantaene
Fisk, er ist unser Nachtwächter – bittet Sie, zum Hintereingang zu kommen.«
»Hat er Tess gefunden?«
Rosalie zuckte zusammen, so heftig kam die Frage. »Nein, Sir, aber er hat dort draußen die Fußspuren eines Kindes im Schnee gefunden.«
Tess war nicht dafür angezogen, sich im Freien aufzuhalten. »Ist er den Fußspuren gefolgt?«
Sie nickte. »Ungefähr fünfzig Meter am Besucherparkplatz entlang. Aber das ist das Problem. Er sagt, die Fußspuren führen nirgendwo hin. Sie hören sozusagen einfach auf.«
Dreißig
Bis dato hatte es sieben ernsthafte Versuche gegeben, aus Blind Lake auszubrechen. Dreimal mit dem Ergebnis, dass die Personen, die den Zaun überwanden und die verbotene Zone betraten, von Pocket-Drohnen getötet wurden. In vier weiteren Fällen war der Versuch schon von den Sicherheitskräften innerhalb des Lakes vereitelt worden. Der jüngste Vorfall betraf einen an Platzangst leidenden Lebensmittellieferanten, der sich entschlossen hatte, den Zaun ganz allein zu erklimmen, jedoch auf halbem Wege den Mut verlor. Als die Sicherheitsleute ihn fanden und überredeten, wieder herunterzukommen, hatte er Erfrierungen an den Fingern beider Hände erlitten.
Herb Dunn, ein zweiundfünfzigjähriger ehemaliger Marinesoldat, arbeitete in der zivilen Sicherheitsbranche, seit er vor zehn Jahren einer Personalabbaumaßnahme in der FedEx-Filiale von Fargo zum Opfer gefallen war. Die Quarantäne von Blind Lake hatte die Verbindung zwischen Herb und seinen Gläubigern (darunter zwei Ex-Ehefrauen) abgeschnitten, eine Tatsache, die er nicht im Geringsten bedauerte. Was ihm abging, war der Zugang zu aktuellen Kinofilmen und Internet-Erotika, aber damit hatten sich die Nachteile der Situation für ihn auch schon erschöpft. Sobald ihm klar geworden war, dass er von keiner Seuche befallen wurde, hatte Herb sich recht behaglich in der Abriegelung eingerichtet.
Außer in dieser Woche. In dieser Woche musste er einen Dienst versehen, den niemand sonderlich schätzte, nämlich die innerhalb der Sicherheitstruppe sogenannte Frühpatrouille. Das Konzept der Frühpatrouille bestand darin, jemanden in der Morgendämmerung mit einem Allwetterfahrzeug loszuschicken, damit er den ganzen Zaun abfuhr, angeblich um etwaige Übeltäter aus der misslichen Lage zu befreien, in die sie sich durch fehlgeleitete Fluchtversuche gebracht hatten. Noch hatte die Frühpatrouille keinen einzigen Fluchtwilligen abgefangen, aber Herb vermutete, dass das Ganze eine gewisse abschreckende Wirkung hatte. Schulgin hatte ihm vor Dienstbeginn mitgeteilt, dass er angesichts des fürchterlichen Sturmes, der in der Nacht über Blind Lake hergefallen war, eine verkürzte Streife fahren sollte: nur einmal zum Haupttor und wieder zurück. Aber das war schon übel genug.
Der Schneefall hatte zwar nachgelassen, als er die Garage verließ, aber ein stürmischer Wind aus Nordwesten machte die Sache dennoch kompliziert. Diese Sicherheitsfahrzeuge waren schon anständige Autos, Hondas mit viel fahrunterstützender Elektronik und Reifen mit variablem Profil, aber ein Schneemobil wäre nach Herbs Ansicht wohl doch effektiver gewesen.
Die Hauptstraße von der im Stadtzentrum gelegenen Plaza in Richtung Süden war nachts geräumt worden, aber nur bis zu den Wohnsiedlungen. Von dort bis zum Zaun war alles voller Schnee, der zudem ständig hin und her geweht wurde, nicht ganz hoch genug zwar, um die Straße zu verdecken, aber doch schwieriges Gelände und langsames Vorankommen selbst für den Honda bedeutete. Herb zog ein wenig Trost aus der Tatsache, dass absolut keine Dringlichkeit oder gar Notwendigkeit mit dieser Fahrt verbunden war. So ließen die Verzögerungen sich leichter ertragen. Er richtete sich in der dampfenden Wärme der Fahrerkabine ein und versuchte sich seine derzeitige Lieblingsschauspielerin in einem vollständig unbekleideten Zustand vorzustellen. (Zu Hause verfügte er über eine Videoserver-Anwendung, die das für ihn besorgte.)
Als er das Haupttor schließlich erreichte, war es schon gar nicht mehr so früh. Es gab inzwischen ausreichend Licht, die Grenzen der Sichtbarkeit zu markieren: eine Blase verwehten Schnees rund um die Führerkabine des Hondas einerseits, ein paar an einen lehmigen Fluss erinnernde schwerfällige Wolken am Himmel andererseits.
Er fuhr bis zum Wendekreis vor dem Haupttor – keine halsbrecherischen Fluchtversuche derzeit zu beobachten –, hielt an und schaltete in den Leerlauf. Er war versucht, die
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