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Quarantaene

Quarantaene

Titel: Quarantaene Kostenlos Bücher Online Lesen
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im Raum vorhandenen großen Videobildschirm an.
    Die Liveübertragung aus dem Auge kam augenblicklich und war gestochen scharf.
    Es sah nach spätem Nachmittag auf UMa47/E aus. Nachmittagswinde wirbelten Staub auf, der den Himmel in ein muschelartiges Weiß tauchte. Das Subjekt schien seine geheimnisvolle Odyssee fortzusetzen, wanderte durch flache, erodierte Schluchten, genau wie gestern und auch vorgestern. Was war daran so ungewöhnlich? Es gab keine Texteinblendungen von der Datenerfassung, keine Erklärung für die offenbar herrschende Aufregung.
    War es die ungewöhnliche Schärfe des Bildes? Vielleicht hatte die Ambulanz ein moderneres Display installiert; das Bild war lebendiger als alles, was Marguerite bisher gesehen hatte, sogar an den Bildschirmen im Auge selbst nicht. Durchsichtig wie ein Fenster. Sie konnte den Staub sehen, der sich an den Kamm des Subjekts heftete, jedes einzelne Körnchen. Fast konnte sie die trockene Brise im Gesicht spüren.
    Dieses Geschöpf, dachte sie. Dieses Ding. Dieses Rätsel.
    Subjekt folgte einem alten Flussbett um eine weitere Biegung, und plötzlich sah Marguerite das, was die Leute von der Datenerfassung schon vorher entdeckt haben mussten – etwas so Sonderbares, dass sie einen Schritt zurücktrat und fast über einen Stuhl gefallen wäre.
    Etwas ungeheuer Fremdartiges. Etwas Künstliches. Vielleicht war es sogar das, was Subjekt die ganze Zeit suchte, das Ziel seiner Reise.
    Es lag auf der Hand, warum dieses Gebilde bei der Überblickserkundung nicht erfasst worden war. Es war groß, aber nicht über alle Maßen groß, und seine Bögen und Säulen waren vom Staub der Jahre, wenn nicht Jahrhunderte, bedeckt. Wie eine Fata Morgana flimmerte es im Licht der Sonne.
    Das Subjekt trat in den Schatten dieses Gebildes, mit so schnellen Schritten wie seit vielen Tagen nicht mehr. Marguerite bildete sich ein, sie könne seine großen schräg ausgestellten Füße über den steinigen Wüstenboden schlurfen hören.
    Aber was stellte dieses Ding dar, groß wie eine Kathedrale, so offenkundig alt und so offenkundig vernachlässigt? Was hatte das Subjekt veranlasst, so weit zu reisen, um es zu finden?
    Bitte, dachte sie, nicht noch ein weiteres Rätsel, nicht noch eine weitere unergründliche Handlung …
    Das Subjekt durchschritt die ersten großen Gewölbebogen, der Schatten zeichnete die Konturen weich.
    »Was willst du bloß hier?«, sagte Marguerite laut.
    Subjekt drehte sich um und sah sie an. Seine Augen waren riesig, feierlich ernst und perlweiß.
    Ein dünner trockener Wind zerzauste die losen Strähnen von Marguerites Haar. Sie sank staunend auf die Knie, griff nach dem Konferenztisch, versuchte sich festzuhalten. Aber es war nur feiner Sand, was sie zu fassen bekam, der Staub der Ewigkeit, der ausgetrocknete Boden von UMa47/E.

 
Achtundzwanzig
     
     
    Als sich der Boden unter seinen Füßen bewegte und die Sirenen die Evakuierung des Auges verkündeten, war Ray bestürzt, aber nicht überrascht. Diese Entwicklung war unvermeidlich. Da war etwas zum Leben erwacht, und diesem Etwas gefiel das nicht, was Ray zu tun beabsichtigte.
    Er jedoch war auf diese Konfrontation vorbereitet. Das wurde ihm zusehends deutlich. Ray war kein großer Anhänger von Schicksalslehren aller Art, doch in diesem Fall musste man ihnen eine nicht unbeträchtliche Erklärungskraft zubilligen. Alle möglichen Erfahrungen seines Lebens, die zunächst rätselhaft schienen – die Jahre der akademischen Grabenkämpfe, seine tiefe Skepsis hinsichtlich der Funktionsweise des Auges, seine so viele Jahre zurückliegende Einführung in die Riten des Todes –, offenbarten jetzt ihren Sinn. Sogar seine alberne Ehe mit Marguerite, ihre trübsinnige Starrköpfigkeit, ihr Unwille, ihm auch nur einmal entgegenzukommen in Dingen, die ihm wichtig waren. Ihre sentimentalen Vorstellungen über die Eingeborenen von UMa47/E. Dies waren die Steine, an denen Ray sich gewetzt hatte wie eine Klinge.
    Das Wort »Klinge« rief eine unangenehme Erinnerung an die Vorfalle vor Sue Sampels Haus wach. Das war ein reiner Reflex gewesen, er hatte überhaupt nicht die Absieht gehabt, ihr körperlichen Schaden zuzufügen. Sie hatte ihn wütend gemacht mit ihrem unverschämten, kreischenden Gelächter, also hatte er sie gestoßen, und dann war das Messer in ihrer Hand aufgetaucht, er war gezwungen gewesen, es ihr zu entwinden, und dann, nach einem gedankenlosen Augenblick, war plötzlich Blut da gewesen. Gott, er konnte Blut nicht

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