Quarantaene
trauriges Gesicht. »Die O/BEKs sind wahrscheinlich schon draufgegangen.«
»Tessa ist da drin.«
»Das sagten Sie schon, aber ich habe da große Zweifel, Mr. Carmody. Unsere Sicherheitsleute haben eine sehr gründliche und geordnete Evakuierung durchgeführt. Und überhaupt, was hätte Tessa hier um fünf Uhr morgens zu suchen?«
Mirror Girl, dachte Chris. »Es wäre nicht das erste Mal, dass sie unbemerkt hineingelangt.«
»Sie haben wirklich einen gewichtigen Grund anzunehmen, dass Tess sich in diesem Gebäude befindet?«
»Ja.«
»Und würden Sie mir den verraten?«
»Tut mir leid. Sie müssen mir vertrauen.«
»Dann tut es mir auch leid. Sehen Sie, selbst wenn es stimmt, dass sie drin ist, ist es so, dass die Sicherheitskräfte jeden Moment kommen werden. Vielleicht können die Ihnen einen Rat geben.«
»Charlie, das sollten Sie schnellstens überprüfen. Ich habe gehört, dass Schulgins Leute zum Südtor abberufen worden sind.«
»Was, wegen des Militärs, das angeblich gekommen ist?«
»Rufen Sie Schulgin an. Fragen Sie ihn, wann Sie mit einem Trupp seiner Leute rechnen können.«
Charlie seufzte. »Hören Sie, ich spreche mit Tabby Menkowitz. Mal sehen, ob sie unter unseren eigenen Leuten einen Freiwilligen findet, der noch mal hineingeht und guckt …«
»Wenn Tess einen Fremden sieht, wird sie sich einfach verstecken. In einer so großen Anlage lässt sich ein elfjähriges Mädchen nicht so einfach aufspüren, da bin ich sicher.«
»Aber wenn Sie kommen, lässt sie sich sehen?«
»An diese Möglichkeit glaube ich, ja.«
»Und was genau wollen Sie tun, durch alle Räume des Gebäudes gehen?«
»Letztes Mal haben Sie sie in der O/BEK-Galerie gefunden, stimmt’s?«
»Ja, aber …«
»Es sind die O/BEKs, die sie interessieren.«
»Das kann mich meinen Job kosten«, sagte Charlie.
»Ist das jetzt wirklich noch ein Kriterium?«
»Herrgott, Chris! – Falls es damit endet, dass man Ihre Leiche aus den Trümmern zieht, was soll ich dann sagen?«
»Sagen Sie, dass Sie mich noch nie gesehen haben.«
»Ich wünschte, es wäre so.« In Charlies Tasche klingelte der Server. Er ignorierte ihn. »Ich will Ihnen was sagen. Nehmen Sie den hier.« Er reichte Chris seinen gelbgestreiften Schutzhelm. »Oben in der Krone ist ein Transponder. Damit kriegen Sie überall Zugang, falls die automatischen Sicherheitssperren überhaupt noch funktionieren. Setzen Sie ihn auf. Und wenn sie nicht da ist, wo Sie glauben, dann sehen Sie verdammt noch mal zu, dass Sie da schnell wieder rauskommen, okay?«
»Danke.«
»Hauptsache, Sie bringen mir den Scheißhelm wieder zurück«, sagte Charlie.
Dreiunddreißig
Kaum hatte Marguerite Tessas Stimme identifiziert, da trat Tessa selbst hinter der nächsten schillernden Säule hervor (oder irgendwie aus ihr heraus).
Aber es war in Wirklichkeit nicht Tess. Marguerite wusste es sofort. Es war das Abbild von Tess, bis hin zu dem Jeans-Overall und dem gelben Hemd, die Marguerite ihrer Tochter für die Fahrt zur Ambulanz eilig angezogen hatte. Tess allerdings hatte noch nie so übernatürlich makellos ausgesehen, so von innen her erleuchtet, hatte noch nie mit so klarem, unbeirrtem Blick in die Welt geschaut.
Das hier war Mirror Girl.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Mirror Girl.
Doch, dachte Marguerite, ich glaube sehr wohl, dass ich Angst haben muss. »Du bist Mirror Girl«, stammelte sie.
»Tess nennt mich so.«
»Und was bist du in Wirklichkeit?«
»Es gibt keinen einfachen Ausdruck dafür.«
»Hast du mich hierhergebracht?«
»Ja.«
»Warum?«
»Weil du es wolltest.«
Stimmte das? »Was hast du mit meiner Tochter zu tun?«
»Ich habe viel gelernt von Tess.«
»Hast du ihr etwas zuleide getan?«
»Ich tue niemandem etwas zuleide.«
Dieses Wesen, dieses Ding, das sich Tessas äußere Erscheinung angeeignet hatte, beherrschte auch Tessas Sprechweise und ihre Art, Fragen nur indirekt zu beantworten. »Tess sagte, dass du im Auge wohnst. In den O/BEK-Prozessoren.«
»Ich habe eine Schwester in Crossbank«, sagte Mirror Girl stolz. »Ich habe Schwestern in den Sternen. Fast zu viele, um sie zu zählen. Ich habe auch hier eine Schwester. Wir sprechen miteinander.«
Diese Unterhaltung war zu bizarr, um real zu sein, befand Marguerite. Sie hatte die Verlaufskurve und die Dynamik eines Traums, und wie ein Traum würde sie sich irgendwie erschöpfen müssen. Ihre, Marguerites, Mitwirkung war nicht nur notwendig, sondern auch zwingend
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