Quasikristalle: Roman (German Edition)
vielen Leuten ist es nicht immer leicht, zu folgen. Dann drehte er sich wieder zu Alberts Freundin. Erzählen Sie es einem alten Mann noch einmal?
Woran hast du gedacht, unterbrach Xane.
An etwas aus meiner Kindheit, sagte er, das liegt vielleicht nahe, an so einem Tag.
Und an was, fragte Xane.
Ach, sagte er und hob die Hand, dies und das, nichts Besonderes. Nehmt ihr eine Nachspeise?
Beim Kaffee begannen die Kinder mit dem Weißt-du-noch-Spiel. Namen flogen hin und her, von Lehrern, Ereignissen, Schulkameraden, mit den meisten verband er vage etwas. Dünne Mädchenbeine in geringelten Kniestrümpfen, Xane und eine Freundin, die unerlaubt im Prater selbstgemachte Papierblumen verkauften. Ein ausgeschlagener Milchzahn, ein eingeschossenes Fenster, das er gemeinsam mit einem anderen Vater bezahlen hatte müssen, obwohl Albert und der zweite Bub unter Tränen schworen, es nicht gewesen zu sein.
Mehr war da ja nicht. Die kleinen Katastrophen und Unglücke, alle nicht der Rede wert. Alles war gut gegangen. Mit vier Jahren hatte Xane eine schwere Lungenentzündung gehabt, das war damals sehr riskant. Ein Jahr später bekam Albert Meningitis, da war er praktisch ein Baby. Als die Ärzte sagten, dass geistige Schäden nicht auszuschließen seien, war Helga zusammengebrochen. Und heute war Albert Universitätsprofessor.
Als die Kinder größer wurden, lebte man als Eltern in ständiger Furcht vor Drogensucht. Die Medien taten damals so, als ob in allen Schulklassen die Heroinspritzen kreisten. Ein paar Jahre später war es Aids, das Helga und ihm Angst einjagte. Für die Kinder selbst war es eher der Atomkrieg, der Horror eines dritten Weltkriegs, der sich über ihre Jugend gelegt hatte wie Mehltau.
Die Russen kommen, rief Xane, das haben wir dauernd im Scherz gesagt, weil wir es wirklich befürchtet haben. Das sind die wahren Zäsuren. Dieses Gefühl trennt uns für immer von unseren Kindern. So wie dich die Nazizeit von uns trennt. Für dich, Papa, ist der Kalte Krieg wahrscheinlich nur noch eine Episode, oder?
Na ja, murmelte er, das kann man so eigentlich auch nicht sagen.
Er war müde. Er hatte bestimmt zu viel Fleisch gegessen, das ihm heute Nacht im Magen liegen würde. In seinem Alter konnte man das, was einem am wichtigsten war, nicht mehr bis zur Neige genießen. Wahrscheinlich konnte man das nie, auch als Jüngerer nicht, und nur die Tatsache, dass die Zeit knapp, dass die möglichen Wiederholungen so überschaubar wurden, machte einen so wehmütig.
Sie brachten ihn alle zusammen nach Hause. Ein schnatternder Haufen vor dem Eingangstor, zum Glück waren die meisten seiner Mitbewohner schwerhörig oder mit Schlaftabletten abgefüllt. Der Portier schaute trotzdem unfreundlich aus seinem Glashäuschen.
Und jetzt ist alles schon wieder vorbei, klagte er, so lange habe ich darauf gewartet.
Alberts junge Freundin gähnte verstohlen.
Wir sehen uns bald wieder, tröstete Xane und streichelte seine Hand. Und denk daran: Jetzt beginnt die schönste Freude.
Die schönste Freude, fragte jemand, was soll denn das sein?
Die Vorfreude, sagte Xane, und dann schauten dieser kastenförmige Albert und diese graugesträhnte Xane einander an und sagten, ihn nachäffend, im Duett: Die Vorfreude ist die schönste Freude!
Als er im Bett lag, spürte er seine Hüfte. Da bist du ja, dachte er, dass ich Geburtstag habe, ist dir natürlich egal. Hauptsache, der Bartok sagt, das Knie ist kaputt!
Es war ein herrlicher Abend gewesen. Er hatte insgesamt eine Menge Glück gehabt, so viel mehr als die meisten seiner Altersgenossen, mehr Glück als Helga. Und als er langsam einschlief, da hegte er plötzlich einen neuen, wenn auch ganz und gar vergeblichen Wunsch. Er wünschte sich, die Zukunft wenigstens so weit beeinflussen zu können, dass seine Kinder nicht allein und furchtsam sterben mussten, wenn es dann irgendwann einmal, in fast unvorstellbarer Ferne, auch bei ihnen so weit war. Das schien ihm mit einem Mal wichtiger als alles, was auf ihn selbst zukommen konnte: dass auch nach seinem Fortgehen irgendeine sanfte Macht seine Kinder beschützte.
So verführen gerade die genauesten Erinnerungen
zur Unwahrheit, weil sie sich auf nichts einlassen,
was außerhalb ihrer selbst liegt.
– Ruth Klüger –
11 Sicher, man hat mit Xane meistens einen Riesenspaß gehabt. Wie oft haben sie einander die Geschichte von der sogenannten Gründungsparty erzählt, damals in Hietzing, in Xanes neuer Wohnung, als Henry Haburka nach einer
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