Quasikristalle: Roman (German Edition)
Inzwischen schien es kaum noch Säufer zu geben. Was ihn betraf, war ein bisschen Schnaps auch schon egal.
Heute Vormittag hatten Xane und er Mor vom Flughafen abgeholt, danach lud Albert ins ›Sacher‹ zum Mittagessen ein. Nobel geht die Welt zugrunde. Kurt erzählte, dass er sich erinnern konnte, dass nach dem Krieg ein Menü vier Schilling gekostet hatte – und das sei teuer gewesen! Er fügte hinzu, er wisse genau, dass er das schon x-mal erzählt habe. Es fällt mir halt immer ein, wenn wir hier sind. Das hat nichts mit Senilität zu tun!
Nur mit Nostalgie, neckte Albert.
Danach verordneten sie ihm eine Mittagspause. Leg dich unbedingt ein Stündchen hin, Papa, schärfte Xane ihm ein, du bist heute immerhin …
Nicht die Zahl, rief er, ich will sie nicht hören!
Alle lachten.
Ihr lacht, hatte er halbernst geschimpft, aber werdet erst selber einmal so alt, dann werdet ihr sehen, dass einem eine solche Zahl völlig unwirklich vorkommt. Man will sie nicht dauernd hören. Man hat das Gefühl, dass sie nichts mit einem zu tun hat. Dass es sich um einen Irrtum handelt. Ich glaube, diese Zahl passt zu niemandem.
Dies war also sein Geburtstag, gewiss sein letzter runder, unwahrscheinlich genug. Damals, als die Soldaten mit den Heugabeln den Schober durchkämmt hatten … Einer war fast auf seinem Oberarm gestanden, ohne es zu merken. Ein paar Zentimeter anders hingestellt, und es wäre aus gewesen. Ein Stück von Kurts Haut war dennoch unter den Stiefel des Unbekannten geraten, ein Gefühl, als würde einem der Ärmel enger gemacht, nur dass das Abgesteckte, Abgeklemmte nicht Stoff, sondern der eigene Körper war.
Und wenn er es doch gemerkt hatte? Dieser Gedanke kam Kurt erstaunlicherweise zum ersten Mal. Wenn es keine wildgewordene SS-Bestie, sondern bloß ein Bauerntölpel in Uniform gewesen war, die es ja auch gegeben haben soll? Der merkte oder ahnte, dass er praktisch auf einem Kind stand, während er mit den Metallzinken im Heu stocherte? Der sich vor dem Finden genauso grauste wie Kurt vor dem Gefundenwerden? So alt hatte er also werden müssen, um den entscheidendsten Moment seines Lebens als Variante denken zu können.
Kurt sah sich um. Ihm war warm, das Essen gut und reichlich, nur die Nebengeräusche waren wie immer ein bisschen zu laut. Stimmen, Besteckgeklapper, Gelächter. Das hier war seine Familie. Zwei Kinder, drei Enkel, dazu ein paar Wasserverwandte. Was ist das Gegenteil von blutsverwandt, hatte Albert einmal als Kind gefragt. Es gibt kein Gegenteil, hatte Helga geantwortet, es gibt nur Entweder-oder. Damit wollte sich Albert nicht zufriedengeben. Nach einigem Hin und Her waren sie bei dem Spruch ›Blut ist dicker als Wasser‹ gelandet. Eh voilà. Familiensprache. Mor, sein Wasser-oder Schwiegersohn, war seit jeher bestrebt, jeden dieser Ausdrücke zu kennen und richtig zu verwenden. Manchmal verdächtigte Kurt ihn, sich Notizen zu machen. Wahrscheinlich ein Minderwertigkeitskomplex, weil er Deutscher war.
Fühlst du dich wohl, fragte Xane.
Alberts neue Freundin schenkte ihm ein strahlendes, die Frage unterstützendes Lächeln.
Pudelwohl, sagte Kurt, am liebsten hätte ich das jede Woche.
Xane, Albert und Mor lachten. Sie nahmen ihn nicht ernst. Sie hielten diese Antwort für Ausdruck seiner eleganten Ironie, für die er zeitlebens berühmt war. Sie hatten nicht bemerkt, dass von dieser Ironie nichts mehr übrig war, sie war verbraucht, ausgegeben, bis zum letzten Körnchen. Ironie bedeutete Distanz. Und die konnte er sich nicht mehr leisten.
Er lächelte und wandte sich Alberts Freundin zu. Er hatte sich ihren Namen noch immer nicht gemerkt, aber wenn er gut aufpasste, würde er bestimmt gleich fallen.
Jetzt erzählen Sie mir einmal, sagte er freundlich, was machen Sie genau dort im Spital?
Sie sah ihn erschrocken an, als hätte er etwas Peinliches gefragt. Auch Albert, der sich gerade eine weitere Scheibe Fleisch aus dem Kupferkessel gefischt hatte, schaute irritiert zu ihm hin. Das Fleisch rutschte zurück in die Suppe. Albert öffnete den Mund, Xane schüttelt fast unmerklich den Kopf. Als ob er das nicht sähe.
Was ist los, fragte Kurt, habe ich etwas Falsches gesagt?
Sie sprach gerade eben davon, sagte Mors ältere Tochter, die im Vergleich zu früher überraschend hübsch geworden war. Wenn sie nicht so einen fürchterlichen deutschen Akzent hätte.
Aber ich glaube, Kurt, du dachtest an etwas anderes.
Das stimmt genau, sagte er dankbar und nickte Viola zu, bei so
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