Quasikristalle: Roman (German Edition)
herzlich zu einem informellen Gespräch mit der Geschäftsführung ein, Erstattung der Reisekosten und ein exquisites Hotel seien selbstverständlich. Sie notiert die Nummer, obwohl es bestimmt keinen Sinn hat, mit denen zu reden. Worüber auch?
Als Nächstes: Kevin. Shanti traut ihren Ohren nicht. Wieso ruft er jetzt auf dieser Nummer an? Wo stecken Sie, verdammt, schimpft er, ich versuche es in ein paar Minuten wieder. Heute, elf Uhr drei, sagt die Automatenstimme.
Dann noch einmal er. Hören Sie, ich bin am Hauptbahnhof in der Parkgarage, Ebene C.Ich sitze hinter einem Auto – bitteres Gelächter –, hier ist es wenigstens ruhig und kühl, ich hoffe bloß, der Besitzer dieses schicken BMW ist mit dem Zug ans andere Ende der Republik unterwegs. Wenn Sie jetzt nicht mehr mit mir sprechen, dann weiß ich nicht mehr … Heute, zwölf Uhr dreiundzwanzig.
Shanti drückt im Menü herum. Diese Nummer ist schon so lange direkt auf Mailbox umgeleitet, dass sie einen Moment lang nicht weiß, wie man das wieder rückgängig macht. Als sie es gefunden hat, schaltet sie sogar den Ton ein. Komm, ruf an, sagt sie, ruf an, verdammt, aber Kevin gehorcht nicht.
Eine halbe Stunde, entscheidet Shanti, wenn er in einer halben Stunde nicht anruft, dann wird sie Karimi zum Hauptbahnhof schicken, Parkgarage, Ebene C.Sie schüttelt das Smartpad, aber das ändert nichts.
Sie öffnet die Terrassentür einen Spalt und zwängt sich hinaus. Den Vorhang zieht sie, so gut es geht, hinter sich zu. Die Temperatur ist wie ein Schlag ins Gesicht. Die grauen Platten sind fast zu heiß für ihre bloßen Füße. Trotzdem trippelt sie bis ans Geländer vor und schaut auf die lesende Frau. Die Paketfrau. Die Eierfrau? Ein paar Haarsträhnen haben sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst und hängen ihr ins Gesicht. Und dann blickt sie zufällig auf.
Shanti beginnt hektisch zu winken. Die Frau schaut, zögert und winkt einmal zurück. Shanti macht mit ihrem Zeigefinger die ›Hinter-Ihnen‹-Bewegung, Kreise im Uhrzeigersinn. Die Frau hebt die Schultern, zum Zeichen, dass sie nicht versteht. Shanti dreht sich um, um anzuzeigen, dass sich die Frau auch mal umdrehen möge, aber als sie wieder hinschaut, hat sie sich aufs Neue in ihr Buch versenkt.
Das Smartpad beginnt zu schnarren. Shanti flüchtet in die Wohnung, in die Dunkelheit und Kühle, zu ihrem Schreibtisch, auf dem Jans Fragen liegen.
Es ist tatsächlich Kevin. Sie sagt barsch, dass er, um keine Zeit zu verlieren, einfach ihre Fragen beantworten solle, eine nach der anderen. Wenn er dazu nicht bereit sei, würde sie gleich auflegen.
Er ist noch in der Parkgarage, jetzt auf einer Toilette. Tante Mia will er aus Sympathie zu sich genommen haben, sie sei die Einzige aus der Familie seiner Frau gewesen, die nach der Scheidung Kontakt gehalten habe. Sie habe ein paarmal ermöglicht, dass er zumindest aus der Ferne seine Kinder sehen konnte. Als seine Ex dahintergekommen sei, habe sie mit ihrer Tante gebrochen.
Immer dieselben Geschichten, denkt Shanti, als ob die Menschen immer mehr Hass akkumulieren, je differenzierter ihre Rechtsprechung wird. Ihr eigener Vater ist damals grußlos verschwunden, und ihre Mutter hat sich nicht die Mühe gemacht, ihn suchen zu lassen, weder vom Finanz-noch vom Jugendamt. Das war nicht schön, aber irgendwie einfacher.
Die Frau auf der Parkbank klappt ihr Buch zu, streckt sich und dreht sich um. Sie betrachtet ihren Mann einen Moment lang, dann springt sie auf und rüttelt ihn an den Schultern. Er schlackert wie eine schwere Puppe.
Shanti schließt die Augen und wendet sich ab.
Und jetzt, Herr Glubkowski, noch Folgendes.
Sie verpackt das, was sie an Jans Informationen zu verstehen glaubt, in knappe Fragen, die für ihn hoffentlich so klingen, als wüsste sie viel mehr und wollte ihn nur testen. Dabei ist es genau umgekehrt. Wie wenig es zur Täuschung braucht, und wie selten man selbst daran denkt, während man getäuscht wird.
Erst ist es still, fast als hätte Kevin vor Schreck aufgelegt. Dann sagt er, kaum noch hörbar: Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Aber wahrscheinlich wäre es für mich besser, wenn ich es wüsste?
Dann ist wieder Pause. Shanti denkt nach. Jemand, der ziemlich sicher kein Wirtschaftskrimineller, sondern nur ein Mitwisser ist und gerade ein paar Stunden hinter einem Auto gekauert hat, müsste weichgekocht sein. Entweder ist er sehr abgebrüht oder er sagt die Wahrheit. Sicher ist nur: Es lässt sich nicht sofort klären.
Gut,
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