Quasikristalle: Roman (German Edition)
mehr weiß, wie es dir eigentlich geht. Du warst immer eine starke Frau – oh ja, ich weiß, wie sehr du diese Phrase hasst! –, aber deine Unerschütterlichkeit kommt mir inzwischen unheimlich vor. Natürlich haben wir uns alle vor deinem Schmerz gefürchtet, denn niemand hat sich Baucis ohne Philemon vorstellen können. Als der Zusammenbruch nicht kam, haben wir uns wahrscheinlich noch mehr gefürchtet. Ich habe geglaubt, je länger es dauert, bis es richtig bei dir ankommt, desto schlimmer würde es werden. Papa selbst hat einmal – den Kontext habe ich leider vergessen – über dich gesagt, dass du, wenn überhaupt, in Zeitlupe zu Boden gehst, so langsam, dass man die Bewegung nach unten geradezu übersehen könnte. Ich habe das als eines seiner Wortspiele abgetan. Wie soll das gehen, fragte ich ihn, irgendwann liegt man doch da. Und er sagte, das meine ich eben, irgendwann liegt sie da, und keiner hat sie fallen sehen. Ich habe ihn gefragt, wann das schon einmal passiert sei, aber das wollte er mir nicht sagen. Früher, winkte er ab, lange vor deiner Geburt.
Jetzt ist es bald drei Jahre her, dass er nicht mehr bei uns ist, aber du, du wirkst wie am ersten Tag. Damals im Krankenhaus, in diesem Verabschiedungsraum oder wie die Kammer hieß, hast du so erstaunt geschaut und gleichzeitig irgendwie friedlich, so, als wärst du irgendwo anders. Bitte Mama, versteh mich jetzt um Himmels willen nicht wieder falsch. Genauso wenig, wie ich zu bestimmen habe, wo und wie du lebst, möchte ich dir vorschreiben, wie du zu trauern hast. Ich hatte nur mit etwas ganz anderem gerechnet, mit etwas – Wilderem. Ich kenne dich ja auch schon ein Weilchen.
Es heißt, die erste Zeit sei man wie betäubt. Ich selbst war betäubt, wir alle waren es wohl. Aber du hast so gut funktioniert, hast alles erledigt, alles organisiert, alle getröstet, mich wohl am meisten. Diesen Abend vor der Beerdigung, wir beide allein mit dem Lagerfeuer und dem Rotwein, den werde ich nie vergessen. Den werde ich dir nie vergessen.
Meiner Erinnerung nach hast du nie die Fassung verloren. Aber inzwischen kommt mir das komisch vor, dass du bis heute nicht damit aufgehört hast, so gut zu funktionieren.
Ich würde dir das alles nicht schreiben – und es ist bestimmt eine Zumutung –, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass hier die Wurzel für unseren Streit liegt. Weil wir darüber noch nie geredet haben, über die Trauer und den Abschied, und wie es für dich ist, allein zu sein. Oder allgemeiner gesprochen: weil du in dieser Hinsicht nicht ehrlich mit mir bist. Du hast mir ja nicht einmal erzählt, wie Papa gestorben ist. Wie du das erlebt hast. Was eigentlich deine letzten Erinnerungen an ihn sind.
Mein Eindruck ist: Du hast dich die ganze Zeit zusammengerissen, mit einer immensen Kraftanstrengung. Ich weiß nicht, warum du das getan hast, für mich, Emmy und Viola, für dich selbst, oder im Namen irgendeiner Konvention. Vielleicht ist dieser Eindruck falsch. Aber du schienst mir, trotz deiner demonstrativen Beschwingtheit, gleichzeitig so vorsichtig… Als würdest du sehr gut auf etwas aufpassen, das nicht außer Kontrolle geraten darf.
Und jetzt schlägt es ins Gegenteil um. Zuerst warst du so unerwartet ruhig und abgeklärt, jetzt kommst du mit einer weitreichenden, irgendwie lauten, irgendwie absolut unvernünftigen Entscheidung.
Mama, du musst doch verstehen, dass ich dich nicht einfach so, unkommentiert, ungefragt, ungerührt, wegziehen lassen kann von uns allen, von deinen Freunden, Kindern und Enkeln, von deinem ganzen Leben, wie du es mit Papa gehabt hast. Vor allem nicht, da du mir bisher nicht einen vernünftigen Grund dafür nennen konntest. Alles willst du aufgeben, um in einer Stadt, in der du inzwischen mehr Tote als Lebende kennst, noch einmal neu anzufangen? In deinem Alter? Ich begreife nicht im Mindesten, was du dort willst, was du suchst oder erhoffst. Deine sogenannte österreichische Identität ist längst nichts anderes mehr als Folklore, meinetwegen Nostalgie. Außer deinem Tonfall ist rein gar nichts mehr an dir österreichisch. Du hast mehr als dein halbes Leben hier verbracht; wenn du die Kindheit abziehst, wird der Wiener Anteil noch geringer.
Und deshalb – weil ich es so fundamental nicht begreife – kommt es mir falsch vor, irgendwie verdächtig. So, als würdest du flüchten, vor einem Ort oder den Erinnerungen, oder als würdest du dir eine andere, schwere Aufgabe stellen, um dich von der einen, die du
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