Quasikristalle: Roman (German Edition)
sagt sie freundlich, lassen wir das.
Per Smartpad schreibt sie an Jan: Nicht unser Mann, wie es scheint.
Können Sie mich holen kommen, fragt Glubkowski kleinlaut, ich habe Angst.
Passen Sie auf, sagt Shanti, Sie bleiben jetzt, wo Sie sind, okay? Ich schicke Ihnen einen Beamten namens Karimi, den kenne ich gut, und ich vertraue ihm.
Besorgen Sie mir einen Anwalt, fragt Kevin.
Mach ich, verspricht Shanti. Gibt es nur eine Toilette auf Ebene C? Ach was, Karimi findet Sie schon.
Um nicht wieder aus dem Fenster schauen zu müssen, geht sie ins Bad und verständigt Karimi. Die Sirenen draußen auf dem Platz hört sie trotzdem. Es waren ein paar Minuten, mehr nicht, doch die können entscheidend gewesen sein. Sie war beschäftigt. Sie hat jemand anderem geholfen, das steht außer Frage. Und außerdem hat sie es versucht. Sie hat ihr gewinkt. Er hätte wirklich schlafen können. Aber die lesende Frau wird vermutlich den Rest ihres Lebens daran denken. Warum sie nicht gerufen hat. Warum sie zurück ins Zimmer gegangen ist, anstatt so lange zu rufen und zu winken, bis auch der Letzte kapiert hätte, dass er sich umdrehen soll.
Sie fühlt sich immer für alles verantwortlich. Sie schiebt das ihrem Vater in die Schuhe, der einfach abgehauen ist. Sie ist die älteste von vier Töchtern und fühlt sich seither für alles verantwortlich. Sie möchte superschlau sein, allerdings – das gibt sie wenigstens vor sich selbst zu – nützt die ganze Schlauheit nichts, wenn man so ungern unter Menschen geht. Wenn man zunehmend Angst hat vor Plätzen und vor Menschenmengen, vor U-Bahn-Schächten und Aufzügen. Manchmal, nicht immer. Aber hier liegt der Fehler. Sie hätte hinunterrennen müssen.
Über die Haussprechanlage ruft sie den Concierge. Er möge sich bitte heraufbemühen, sie habe ein Kleid für die Reinigung. Sie steht vor dem Schrank und kann sich nicht entscheiden. Sie nimmt die in Frage kommenden Kleider heraus, ein auffälliges rotes, das ihren Typ betont, und ein schlichtes graues. Das graue war teurer, hat aber deutlich weniger Orientfaktor. Sie wird also erst morgen entscheiden, wie sie Lennart Guttmann gegenübertreten möchte, als Märchen oder als Intellektuelle.
Als sie dem Concierge die Kleider übergibt, macht er sie darauf aufmerksam, dass hinter ihr das Smartpad blinkt.
Es ist Jan. Es war ein Hühnerknochen, sagt er.
Ein Hühnerknochen, fragt Shanti, wovon redest du?
Na, in Tante Mias Luftröhre, sagt Jan aufgeräumt, ich hoffe, du bist nicht gerade beim Essen. Ein winzig kleiner Splitter eines Hühnerknöchelchens, wahrscheinlich beim Sturz da hineingeraten. Sehr unerfreulich für die Dame. Da hätte nur ein beherzter Schnitt geholfen. Sie ist langsam erstickt.
Hallo, Shanti, fragt Jan, bist du noch da?
Ja, sagt sie, und das hast du vermutlich von Maja?
Kein Kommentar, sagt er gutgelaunt. Übrigens ist Maja so alt, wie sie sagt. Im alten Web gibt’s noch Artikel aus ihrer Abiturzeitschrift.
Später spricht sie mit ihrer Mutter und mit ihrer jüngsten Schwester, die im vierten Monat ist und berichtet, dass ihr zum ersten Mal seit Wochen nicht schlecht ist. Shanti erzählt ihnen nichts von ihrem Tag.
Über das Young-Leader-Netzwerk haben sich zwei Mitglieder gemeldet, angeblich gibt es mehrere aktenkundige Vorfälle aus dem ›Resort Kirschblüte‹, jedoch keinen mit Todesfolge. Dreimal Grobheit, einmal Verdacht auf Quälerei. Ein Lokaljournalist namens Gräven könne da weiterhelfen. Sie bedankt sich herzlich und verrät nicht, dass sie die Spuren nicht weiterverfolgen wird.
Sie sieht sich drei Folgen der neuen Serie an, in der es um Industriespionage auf Ölplattformen geht. Die kessen Ingenieurinnen sind übertrieben smart und schlagkräftig, trotzdem ertappt sie sich dabei, so sein zu wollen wie sie.
Karimis Rückruf lässt auf sich warten. Shanti versucht es schließlich selbst. Als sie ihn nicht erreicht, ruft sie in der Zentrale an. Zweimal fliegt sie aus der Leitung, beim dritten Mal wird sie von einer Sekretärin angemeckert: Ich darf Ihnen seine direkte Nummer nicht geben.
Ich habe seine direkte Nummer seit hundert Jahren, schnauzt Shanti, er hebt nur nicht ab.
Es ist Abend, als er sich meldet. Er klingt erschöpft und beschwert sich, dass er noch ein paar andere Sachen zu erledigen hatte, ob ihr Newsticker abgeschaltet ist? Immerhin haben sie Glubkowski, obwohl er psychisch in schlechter Verfassung ist. Er hat ein Beruhigungsmittel bekommen und schläft.
Der Typ ist vermutlich ein
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