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Titel: Quellcode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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Koreaners durchblätterte oder einfach in die Luft starrte.
    Milgrim knöpfte den Paul Stuart zwar auf, ließ ihn aber an, als er sich setzte. Er blickte auf den dichten Komposthaufen von Prominentengesichtern auf dem Couchtisch vor ihm (zählten Nabel auch als Gesichter?) und registrierte die Ausgabe der Time mit dem Präsidenten in Pilotenkluft, auf dem Flugdeck dieses Flugzeugträgers.
    Er rechnete nach: Die Ausgabe war jetzt fast drei Jahre alt, älter als die meisten Klatschmagazine hier, die Milgrim dann doch manchmal kurz in die Hand nahm, wenn der Messianismus des 12. Jahrhunderts sich als einschläfernd erwies. Wenn er hier nämlich einnickte, kam seiner Erfahrung nach der Koreaner und stieß ihm mit einer zusammengerollten Us in die Rippen.
    Im Moment aber war er bereit für Wilhelm den Goldschmied und die Amalrikaner, die sozusagen die Wegbereiter waren für sein Lieblingsthema, die Häresie des »Freien Geistes«. Er hatte gerade die Hand in seine Tasche gesteckt, um den tröstlich abgegriffenen Band herauszunehmen, als eine dunkelhaarige junge Frau in hohen, braunen Stiefeln und einer kurzen weißen Jacke hereinkam. Er beobachtete, wie ihr der Koreaner im Austausch für zwei dunkle Hosen eine Quittung gab. Anstatt den Laden zu verlassen, zog sie ein Handy hervor und begann eine lebhafte Konversation auf Spanisch, während der sie zum Sofa herüberkam, sich hinsetzte und beim Telefonieren immer wieder zerstreut in den Zeitschriften auf dem Sperrholzcouchtisch blätterte. Präsident Bush in seiner Pilotenkluft wanderte augenblicklich unter andere Zeitschriften, aber sie grub nichts aus, was Milgrim nicht zuvor schon gesehen hatte. Und doch war es angenehm, diese Vinylbank mit ihr zu teilen und den Klang einer Sprache zu hören, die er nicht verstand. Seine fast angeborene Gewandtheit im Russischen musste er wohl mit dem Fehlen jeglicher Begabung in den romanischen Sprachen bezahlen.
    Die Frau warf ihr Handy in die Handtasche, stand auf, lächelte abwesend und ging hinaus.
    Als er sein Buch aus der Tasche zog, sah er das Handy auf dem roten Vinyl liegen.
    Er schaute kurz zu dem Koreaner hinüber, der im Wall Street Journal las. Die komischen gezeichneten Miniaturporträts darin wirkten aus der Entfernung wie Fingerabdrücke. Milgrim sah wieder auf das Telefon.
    Seine Gefangenschaft hatte ihn verändert. Vor Brown hätte er das Telefon automatisch eingesackt. Nun, da er verborgen in Browns Überwachungswelt lebte, waren scheinbar zufällige Begegnungen auf einmal verdächtig. War das wirklich eine Spanisch sprechende Schönheit gewesen, die ihre Bürohosen zum Reinigen vorbeibrachte, oder gehörte sie zu einem von Browns Teams? War es wirklich ein Versehen, dass sie ihr Handy liegen gelassen hatte?
    Und was, wenn es kein Versehen war?
    Er beobachtete mit einem Auge den Koreaner und verbarg das Handy in seiner Hand. Es war noch warm: eine kleine, doch fast schockierende Intimität.
    Er stand auf. »Ich muss auf die Toilette.«
    Der Koreaner sah ihn über den Rand des Wall Street Journals hinweg an.
    »Ich muss pinkeln.«
    Der Koreaner faltete die Zeitung zusammen, stand auf, hielt einen Vorhang aus geblümtem Stoff zur Seite und bedeutete Milgrim durchzugehen. Milgrim ging schnell an einem Verhau industrieller Bügelgeräte vorbei und durch eine schmale, beige gestrichene Tür mit der Siebdruckaufschrift NUR FÜR PERSONAL.
    Die Innenwände der Toilette waren aus weißgestrichenem Sperrholz und erinnerten Milgrim an die Toilettenkabinen eines Sommercamps in Wisconsin. Es roch durchdringend, aber nicht unangenehm nach Desinfektionsmittel. Wie immer auf der Toilette verschloss Milgrim die Tür, mit dem windigen, goldfarbenen Haken aus taiwanesischer Produktion. Er machte den Toilettendeckel zu, setzte sich darauf und untersuchte das Handy der Frau.
    Es war ein Motorola mit Call-Display und Kamera. Das Modell war ein paar Jahre alt, wurde aber, soweit er wusste, noch verkauft. Wenn er es zum Weiterverkaufen gestohlen hätte, wäre er enttäuscht gewesen. Wenigstens war es fast vollständig geladen und roamingfähig.
    Milgrim blickte hoch auf einen Kalender von 1992, der etwa 25 Zentimeter entfernt vor seinen Augen hing. Seit August waren die Blätter nicht mehr abgerissen worden. Der Kalender warb für ein Immobilienunternehmen und zeigte ein übertrieben farbgesättigtes Tageslicht-Foto der New Yorker Skyline, vollständig mit den schwarzen Türmen des World Trade Centers. Sie sahen im Rückblick so augenfällig

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