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suchen könnte.« Sie nahm das Gegenstück aus Styropor.
Tito sah hinüber zu der blauen Vase. Die hatte er ganz vergessen. Er musste noch einen Platz dafür finden. Er wusste schon wo.
»Wo bist du hin nach dem 11. September?«, fragte Vianca. »Ehe du hierher gezogen bist?«
Er hatte ursprünglich südlich der Canal Street gewohnt, mit seiner Mutter. »Wir sind nach Sunset Park gezogen. Mit Antulio. Wir haben ein Haus gemietet, rote Ziegel, mit ganz kleinen Zimmern. Kleiner als dieses. Wir haben dominikanisches Essen gegessen. Sind im alten Friedhof spazieren gegangen. Antulio hat uns Joey Gallos Grab gezeigt.« Er stellte den Casio weg, stand auf und zog sein Haarnetz herunter. »Ich gehe hinauf aufs Dach«, sagte er. »Muss dort was erledigen.«
Vianca nickte und verstaute den styroporbewehrten Sony in seinem Karton.
Tito zog seinen Mantel an, nahm die blaue Vase und steckte sie, noch immer mit weißen Handschuhen, in die Seitentasche. Er ging hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Im Hausflur blieb er kurz stehen, unfähig zu benennen, was er fühlte. Angst, aber die war angebracht. Etwas anderes. Begrenzungen, Territo-rien, eine beklemmende Weite? Er ging weiter zur Feuertür und die Treppen hinauf, bis er vom sechsten Stock auf das Dach gelangte.
Beton bedeckt mit Asphaltsplittern, Kies, vergessene Spuren des World Trade Centers. Alejandro hatte das gesagt, als er einmal hier oben gewesen war. Tito musste an den hellen Staub denken, der dick auf dem Fensterbrett des Schlafzimmers seiner Mutter gelegen hatte, dort südlich der Canal Street. Er musste an Feuertreppen denken, weit entfernt von den zusammenstürzenden Türmen, übersät mit Bürodokumenten. Und an die Hässlichkeit des Gowanus Expressways. Den winzigen Vorgarten des Hauses, in dem sie mit Antulio gewohnt hatten. Den N-Train vom Union Square. Die verstörten Augen seiner Mutter.
Die Wolken sahen aus wie ein Kupferstich. Ein Licht, das der Welt die Farbe raubte.
Die Tür öffnete sich in einen Aufbau mit schiefer Rückwand nach Süden. An der nach Osten weisenden, keilförmigen Wand dieses Aufbaus waren ungestrichene Regalbretter angebracht, die seit langem grau geworden waren. Mehr zurückgelassen als bewusst arrangiert standen auf den Brettern verschiedene Gegenstände. Ein korrodierter Eimer auf Rollen, mit einer Ausdrückvorrichtung für einen Wischmopp. Wischmopps selbst, mit kahl und grau gewordenen Köpfen, die abblätternde Farbe an ihren Stielen verblichen zu zartem Pastell. Leere weiße Plastikfässer, auf denen nichtsdestotrotz schwarze Skeletthände in schwarz-weißer Raute warnten. Mehrere verrostete Hand-werkzeuge aus Eisen, die wegen ihres hohen Alters zumindest für Tito nicht zu identifizieren waren. Verrostete Farbkanister, deren Papieretiketten so verblichen waren, dass man sie nicht mehr lesen konnte.
Er nahm die Vase aus der Tasche und polierte sie mit seinen Baumwollhandschuhen. Oshun musste zahllose Heime haben wie dieses, dachte er, zahllose Fenster. Er stellte die Vase auf ein Regalbrett, schob einen Kanister beiseite, rückte die Vase ganz an die Wand und den Kanister wieder an seinen alten Platz, so dass die Vase hinter zwei Kanistern verborgen war. Wie es auf solchen Dächern war, konnte sie morgen von jemandem entdeckt werden oder jahrelang unberührt dort stehen bleiben.
Sie herrscht über die süßen Gewässer der Erde. Die jüngste der weiblichen Orishas, obwohl ihr Titel Große Königin ist. Erkennt sich in den Farben Gelb und Gold wieder, in der Zahl Fünf. Pfauen gehören ihr und Geier.
Tante Juanas Stimme. Tito neigte den Kopf zu dem Regalbrett hin, zu dem verborgenen Altar, drehte sich um und ging die Treppen hinab.
Er schloss seine Zimmertür wieder auf und sah, dass Vianca gerade das Laufwerk aus seinem PC-Tower entfernte. Sie sah ihn an. »Hast du kopiert, was du behalten möchtest?«
»Ja«, sagte er und berührte den iPod Nano, der um seinen Hals hing. Ein Talisman. Mit seiner Musik darauf.
Er zog den Mantel aus, hängte ihn an den Kleiderständer und streifte das Haarnetz wieder über. Dann ließ er sich gegenüber seiner Cousine nieder und begann wieder mit dem rituellen Abtragen, diesem minutiösen Wegschrubben von Spuren, Ausradieren. Juana würde sagen: dem Waschen der Schwelle zu einer neuen Straße.
26. GRAY'S PAPAYA
Manchmal, wenn Brown abends hungrig war und in einer gewissen Stimmung, dann gingen sie auf ein so genanntes Recession Special ins Gray's Papaya. Milgrim bekam dazu immer
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