Quellen innerer Kraft
Geist. Es geht dabei nicht darum, eine religiöse Leistung zu vollbringen. Vielmehr sollen die Gebetsworte uns immer wieder an die Quelle in uns erinnern, damit wir aus dieser Quelle schöpfen anstatt aus den trüben Quellen unseres eigenen Wollens. Das ist auch das Ziel der kurzen Stoßgebete wie: „Im Namen Jesu“ oder „Mit Gottes Hilfe“. Solche kurzen Gebete lassen die Menschen spüren, dass da noch etwas anderes in ihnen ist, aus dem sie schöpfen können. Für viele genügt es, sich einfach still vor Gott hin zu setzen und sich ihm hinzuhalten. Dadurch kommen sie zur Ruhe. Und sie spüren, dass sie in der Stille innerlich regenerieren und erfrischt und gestärkt werden.
Cassian berichtet uns von einer Methode der Meditation, die die Vorstellungskraft zu Hilfe nimmt. Schon vor 1600 Jahren hat er also eine Methode entwickelt, die die Psychologie heute neu als heilsam entdeckt hat. In dieser Meditation sollen wir uns vorstellen, wie wir auf Beleidigungen mit Sanftmut reagieren. Es ist kein Vorsatz, den wir uns mit dem Willen machen. Cassian versteht die „meditatio“ als Einübung in eine innere Haltung. In der Meditation stellen wir uns eine Haltung vor, nach der wir uns sehnen oder die uns Jesus Christus im Evangelium als seinem Geist entsprechend verkündet hat. Cassian regt uns an, wir sollten uns in täglichem Sinnen (meditationibus) einüben in die vollkommene Geduld, und er empfiehlt dem Meditierenden: „Indem er sich so alles Harte und Unerträgliche häufig vorstellt, sinne (meditetur) er beständig in aller Herzenszerknirschung nach, mit welcher Sanftmut er demselben begegnen müsse.“ (Coll 19,14)
Im alltäglichen Leben ist dies nicht einfach zu realisieren. Eine Schwester erzählte mir, dass sie sich über einige Mitschwestern ständig ärgere. Ihr Ärger sei in ihr zu einem Kloß geworden, der sich zwischen Kopf und Herz geschoben habe und sie von ihrer inneren Quelle trenne. Sobald die Mitschwester den Mund aufmacht, reagiert sie schon aggressiv. Es ist, wie wenn aus ihrem Innern ein Schwall von schmutzigem Wasser hochsteigt und sie überschwemmt. So kann sie gar nicht mehr vernünftig reagieren. Und immer wieder ärgert sie sich, dass sie dieser Mitschwester soviel Macht über sich gibt. Cassians Anregung könnte da eine gute Hilfe sein: Sich vorzustellen, dass sie ganz im Frieden mit sich ist, in Berührung mit der inneren Quelle von Ruhe und Gelassenheit, von Frieden und Milde. Dann könnte sie nicht mehr aus ihrer Mitte vertrieben werden. Vielmehr würde sie aus sich selbst antworten und sich von der Mitschwester nicht in die Position von Rechtfertigung und Verteidigung drängen lassen.
Was Cassian damals entwickelt hat, möchte ich in eine Übung umsetzen, die auch heute hilfreich ist:
Setze dich entspannt hin. Schließe die Augen. Stelle dir vor, du sitzt in deiner Wohnung an deinem Lieblingsplatz. Du spürst den Atem, wie er durch den Leib strömt. Und mit dem Atem strömt deine Zustimmung zu dir selbst.
Es ist gut, so wie es ist. Ich bin ganz bei mir, im Einklang mit mir selbst. Ich bin in meiner Mitte, in Berührung mit der inneren Quelle.
Dann stelle dir vor: Es kommt ein Mensch, der dir vertraut ist, mit dem du dich gerne unterhältst. Wie würde das Gespräch ablaufen, wenn du ganz bei dir wärest und zugleichoffen für den andern? Wenn du frei wärest von dem Druck, die Erwartungen des anderen zu erfüllen oder eine gute Figur zu machen, wenn du den andern bewusst wahrnehmen würdest, in seinem Gesicht, in seinen Worten, und wenn du antwortest, was wirklich aus deinem Herzen strömt?
Dann verabschiede dich von diesem Menschen. Spüre nach, dass du wieder ganz bei dir bist.
Dann stelle dir vor, dass ein Mensch zu dir kommt, der dich oft einengt und dir Angst macht, mit dem du nur ungern sprichst, mit dem du vielleicht gerade einen Konflikt hast. Wie würde das Gespräch ablaufen, wenn du ganz bei dir wärest, wenn du dir vom andern nicht die Spielregeln aufzwingen lassen würdest, wenn du dich nicht von den Worten des andern in die Enge treiben lässt? Wie könntest du den andern sehen, wenn du ihn nicht festlegst auf seine aggressive Art, sondern die Sehnsucht in ihm erkennst? Versuche, die Würde des andern zu beachten. Und stelle dir dann vor, was du ihm sagen und wie du zu ihm sprechen möchtest …
Dann verabschiede dich wieder und spüre nach, ob du ganz bei dir selbst bist.
Eine solche Meditation kann eine gute Übung für dich sein, damit du auch in
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