Quercher 01 - Quercher und die Thomasnacht
Dann ließ sie sich einfach vom Stuhl fallen.
Der Schmerz war fürchterlich. Sie hatte ihren rechten Arm ausgestreckt, um den Aufprall abzufedern und ihren Sohn zu schützen. Während sie fiel, blieb sie mit einem Fuß in dem Beingestell des Stuhles hängen und riss es mit. Der Rest des Körpers fiel auf ihren linken Arm. Das Handgelenk brach mit einem kurzen Knacken. Sie schrie gegen das Gedudel des Radios an. Und tatsächlich war ihre Stimme wieder da. Es kamen zumindest Töne heraus. Nicht laut genug, um das Radio zu übertönen. Aber immerhin ein Erfolg. Und das Gelenk der rechten Hand war noch intakt.
Sie erinnerte sich, dass auf dem Schreibtisch ein Telefon stand. Das aber war schier endlos weit entfernt. Ihr Smartphone hatte sie in ihrem Mantel im Wartezimmer gelassen. So lag sie minutenlang auf dem kalten, gelverschmierten Boden des Behandlungszimmers und weinte. Bis sie ihre Tasche wenige Meter vor sich sah, angelehnt am Schreibtisch. Darin befand sich ihr Laptop. Über das Gel konnte sie vielleicht vorwärtsrobben, das war zumindest ihr Plan gewesen. Sie streckte ihre Hand aus, um das Tischbein des Schreibtischs zu umfassen, aber es fehlten mindestens zehn Zentimeter. Sie streckte sich noch einmal. Doch das Gel ließ sie nicht vorwärts kommen. Sie rutschte wieder zurück. Toller Plan, Arzu, dachte sie wütend.
Ihre Schuhe, die sie vor der Behandlung hatte ausziehen müssen, standen näher. Arzu hatte eine Idee, auch wenn sie sich nicht sicher war, ob die Zeit reichen würde. Aber sie musste es versuchen. Sie schloss die Augen, griff mit ihrem rechten Arm nach den Schuhen und erwischte einen von ihnen. Das waren die entscheidenden zehn Zentimeter! Mit der Schuhspitze kam sie an den Tragegurt. Mit letzter Kraft konnte sie die Tasche zu sich ziehen. Sie atmete schwer, bekam kaum Luft. Wieder trat ihr Sohn.
»Ja, du Quälgeist«, flüsterte sie leise.
Sie zog den Computer aus der Tasche, drückte ihn auf und schaltete ihn ein. Sie fuhr über das Mousepad. Eine Mail konnte sie nicht schreiben. Weder hatte sie die Kraft dazu noch konnte sie hoffen, dass irgendwer sofort reagieren würde. Sie musste jemand via Skype anrufen. Die Müdigkeit war überwältigend. Sie wollte nur noch schlafen, weg von dem Schmerz und der Verzweiflung. Sie wählte eine Nummer, bei der angezeigt wurde, dass der Teilnehmer online war. Das Letzte, was sie sah, war Pollingers Gesicht auf dem Bildschirm. Dann wurde sie endgültig bewusstlos.
»Hallo«, flüsterte der alte Mann. »Hallo, hallo? Frau Nishali? Ich kann nicht mit Ihnen telefonieren. Ich bin beim Arzt. Ich habe nur meinen Tabletten-PC dabei.«
Kapitel 38
Wolfsschlucht, Gemeinde Kreuth, Mittwoch, 20. 12., 16.46 Uhr
Im frisch gefallenen Schnee konnten Quercher und Hannah die Spuren des Mannes noch gut verfolgen. Er war über die Brücke gerannt, hatte dann den Weg nach rechts in die Schlucht angetreten. Dieser führte wieder durch ein Waldstück, stieg und fiel und stieg wieder. Der Mann musste, wie Quercher zu seiner Zufriedenheit feststellte, immer wieder tief im Schnee eingesackt sein. Die Löcher, die seine Beine hinterlassen hatten, reichten mindestens bis zum Knie. Aber nur noch die Dämmerung des Abends gab etwas Restlicht. Es war ein Wettlauf gegen die Dunkelheit. Schon jetzt sah Quercher nur wenige Meter weit. Er blickte zu Hannah. Aber auch sie würde bald müde werden.
Er musste den Kerl bekommen. Der Mann hatte die Beweise, die ausreichen würden, eine umfangreiche Ermittlung des LKA durchzuführen. Durch Ellis Informationen, die USB-Sticks und die Tagebuchnotizen hatte Quercher seine Vermutungen bestätigt bekommen. Diesen Trumpf würde er nicht mehr hergeben. Es war, als ob er in der zehnten Runde eines Boxkampfes nach fast verlorenem Kampf zurückgekommen wäre. Nur das trieb ihn voran.
Quercher stapfte mit grimmiger Wut voran und blieb plötzlich stehen, um in den Wind hineinzuhören. Er hörte ein Keuchen. Der Mann konnte nicht weit von ihnen entfernt sein. Der Weg führte in Serpentinen steil bergauf. Sollten sie abkürzen? Quercher erinnerte sich schwach an den Verlauf des Weges. Rechter Hand mussten Almhütten stehen, die Privatleuten gehörten. Quercher blieb auf dem Weg, machte noch einmal Tempo und ließ Hannah damit einige Meter zurückfallen. Tatsächlich erkannte er jetzt die Grundmauern einer Hütte und überblickte nach weiteren Schritten im dichten Schneefall die weiße Fläche einer Almwiese von ungefähr zwei Hektar Größe. Er
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