Quercher 01 - Quercher und die Thomasnacht
Stück Papier vom Schnee abheben und wieder auf den Boden fallen – und das alles in wenigen Sekunden. Quercher versuchte, mit seinen Händen zu rudern. Aber der Strom blies weiter über die Fläche, stach in sein Gesicht. Er verlor Hudelmeier aus den Augen, drehte sich, machte Purzelbäume. Der Wind wurde immer stärker, wirbelte ihn erneut herum. Bäume rutschten an ihm vorbei, meterlang, und ihre Äste schlugen in sein Gesicht. Die Hütte kam immer näher, vielleicht waren es noch fünfzig Meter, er fühlte sich wie auf einem Talstück bei einer Skiabfahrt. Dann prallte er gegen das Gatter der Hütte. Es krachte und der Schmerz war so schlimm, dass er fast das Bewusstsein verlor. Er fiel in den Rundgang der Hütte, sah auf sein Bein und bemerkte, dass sein Unterschenkel direkt unter dem Knie nach rechts abstand. Quercher drehte den Kopf. Eine weiße Wand, scheinbar Hunderte Meter hoch, rollte auf ihn zu. Er hämmerte gegen die Tür der Hütte und tatsächlich öffnete sie sich.
Hannah zog ihn herein, verschloss die Tür und schrie: »Da vorn ist ein Keller, nicht tief, aber wie es aussieht, in den Stein gehauen!«
Quercher konnte sie kaum verstehen. Draußen wütete ein Inferno. Er nickte.
»Ich bekomme die Falltür nicht allein auf«, brüllte Hannah gegen das Tosen an.
Sie half Quercher auf die Beine und drückte ihm eine Eisenstange in die Hände. Trotz seiner Schmerzen nahm Quercher ihr die Stange ab, zog sie durch eine metallene Schlaufe und zog die schwere Stahltür nach oben. Er drückte Hannah und Lumpi hinein und warf sich danach selbst hinunter in die muffige Enge.
Der Keller war eine Höhle, sie war förmlich in den Bergstein hineingetrieben worden. Es gab kein Mauerwerk, das sie schützte. Lediglich der Kalkstein, der nicht für seine Stabilität bekannt war, umgab sie. Die Luft wurde knapp. Sie japsten. Der Sog, der sich über ihnen ergoss, zog den Sauerstoff durch die Ritzen der Eisenplatte hinauf. Lumpi steckte ihren Kopf zwischen Querchers Beine und zitterte. Alles quietschte. Der Boden vibrierte wie bei einem Erdbeben. Etwas Gewaltiges drückte gegen die Stahltür, schob sie gegen die Verankerung. Sie bog sich und ließ eine kleine Öffnung frei werden. Sofort schwappten Schneemengen herein, fielen in Brocken herab, füllten den ohnehin schon engen Raum. Quercher hörte das Ächzen der Balken über ihnen. Es krachte. Dann war alles still.
Kapitel 39
Wolfsschlucht, Gemeinde Kreuth, Mittwoch, 20. 12., 17.31 Uhr
Als das Adrenalin in ihren Körpern abebbte, spürten sie die Kälte. Sie saßen in einem Tiefkühlfach fest.
»Was ist mit deinem Bein?«, fragte Hannah in die Dunkelheit hinein.
Er betastete es vorsichtig. Es war geschwollen. Und er spürte einen tauben Schmerz. »Gebrochen«, antwortete er lakonisch.
»Blutet es?«
»Nein.«
»Gut, ich werde ein wenig die Umgebung absuchen. Vielleicht finde ich irgendetwas, um dein Bein zu schienen. Denn sonst werden die Schmerzen unerträglich«, erklärte sie fürsorglich.
»Lernt man das als Firmenchefin?« Seine Anspielung war eher seiner Wut über sich selbst geschuldet als dem Wunsch nach Klarheit. Er hatte ihr vertraut. Sie hatte ihn missbraucht. Und jetzt war er hilflos. Er hörte sie im Keller herumkriechen. Sein Bein begann zu pochen.
Sie ging nicht auf seine Provokation ein. »Hier ist etwas. Scheint ein Liegestuhl zu sein. Ich habe ein Messer dabei. Ich werde das Ding zerkleinern und damit schienen.«
Hannah schien sehr fachkundig zu sein. Sie zertrat in der Dunkelheit den Liegestuhl, zerriss den Stoff und robbte zu Quercher. Langsam tastete sie sich an seinem Bein entlang. Er sog die Luft zwischen den Zähnen ein, wollte auf gar keinen Fall schreien.
Aber kaum schob sie die Hose etwas höher, schrie er auf. »Scheiße, verdammt! Das geht nicht.«
»Dann beiß die Zähne zusammen«, forderte sie ihn mitleidslos auf.
Er hatte keine Chance, etwas zu erwidern, bevor sie bereits mit schnellen Schnitten das Hosenbein auftrennte.
»Scheint kein offener Bruch zu sein«, rief sie gegen sein Schreien an. »Ich habe ein Zippo, warte mal.«
Hannah kramte in ihren Taschen. Plötzlich flackerte das gelbe Licht eines Feuerzeugs auf und warf ihr Gesicht in zitternde Schatten.
»Was hast du da draußen getan, Hannah?«, flüsterte Quercher leise.
Statt zu antworten, inspizierte sie mit dem Licht des Feuerzeugs den Raum. Die Decke war gerade so hoch, dass sie gebückt stehen konnte. Es schien eine Art Abstellkammer zu sein.
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