Quercher 01 - Quercher und die Thomasnacht
wusste ja selbst nicht, ob er diesen Fall überstehen würde.
Er sah sie an. Und in diesem Moment war ihm klar, dass sie es schaffen konnte. Er würde ihr dabei helfen.
»Elli, nimm deinen Wagen und fahr nach Innsbruck. Es ist gut so. Du hast die Kraft. Geh. Ich helfe dir. Vertrau mir.«
Sie löste sich aus seiner Umarmung und schaute ihn nur kurz an, bevor sie sich umdrehte. Er sah ihr noch nach, wie sie durch den Schnee zu ihrem Auto lief.
»Viel Glück, Elli«, murmelte er, ehe er sich abwandte.
Seine Jacke war voller Blut. Aber sie war warm und vor allem trocken. Aus schierer Verzweiflung hatte Quercher die Jacke von Josef Schlickenrieder angezogen. Wie er das jemals den Ermittlern erklären sollte, war ihm schleierhaft.
Jemand schrie. Es kam aus der Richtung der Hütte. Es war Hannah. Er rannte über den Weg, den Elli genommen hatte, zurück. Er spürte, wie die Kraft ihn langsam verließ. Seine Lungen brannten. Sein Kopf schien zu zerspringen. Zwei Tote in drei Stunden waren auch für ihn zu viel. Er würde etwas Zeit brauchen, um das zu verarbeiten. Aber jetzt sah er in fünfzig Metern Entfernung durch einen Vorhang aus dichtem Schnee Hannah, die winkte und wild in Richtung Süden deutete. Lumpi lief auf ihn zu. Der Weg machte eine breite Schleife. Er würde wieder abkürzen müssen. Aber hier war der Fluss flach und leicht passierbar.
»Was ist?«, rief er, als er die Hütte erreicht hatte.
Hannah stand vor ihm und hielt sich den Kopf. »Ein Typ hat mich niedergeschlagen und mit einer Waffe bedroht.«
Schwer atmend packte er ihre Schultern und nahm vorsichtig ihre Hand vom Kopf. Er spürte nur eine kleine Beule. »Was ist mit Ellis Tagebüchern?«
»Ich weiß es nicht, Max. Ich weiß es nicht.«
Quercher hechtete hinein in das Holzhaus. Die Sporttasche lag nicht mehr auf dem Tisch. Quercher rannte wieder aus der Hütte hinaus zu Hannah, die sich immer noch den Kopf hielt.
»Wo ist er hin?«
Sie deutete auf den Wald. »Er ist über die Brücke und dann nach links gelaufen.«
»Trug er Schneeschuhe oder Skier?«
Sie schüttelte verwirrt den Kopf.
»Gut, dann haben wir einen kleinen Vorteil. Los, zieh deine Schneeschuhe an. Auf geht’s, Lumpi. In einer halben Stunde ist es stockdunkel.«
Kapitel 37
Gmund, Mittwoch, 20. 12., 16.35 Uhr
Vielleicht war die Dosis falsch gewählt. Vielleicht war es auch das Adrenalin, das ihren Körper so intensiv durchströmte und ihn davon abhielt, völlig in die Bewusstlosigkeit zu gleiten. Immer wieder fielen ihr die Augen zu. Sie träumte kurz. Von ihrem Vater in einem Café, irgendwo in Anatolien. Von ihrem Kind, das ihre Panik spüren musste. Dann wachte sie wieder auf. Atmete schnell und flach. Ihr Peiniger hatte ein Radio eingeschaltet, fürchterlich laut. Sie versuchte, sich zu erinnern, seit wann sie hier war. Es mussten zwei oder drei Stunden sein. Sie glaubte, Last Christmas von George Michael bereits zum dritten Mal zu hören.
Immer wenn sie erwachte, versuchte sie, aus dem Stuhl herauszukommen. Aber ihre Beine versagten. Ihren Kopf und einen Arm konnte sie einigermaßen bewegen. Sie war voller Wut. Und die Wut hielt sie wach. Wie hatte sie sich nur so übertölpeln lassen können? Sie mahnte sich zur Ruhe. Keine Panik. Sie hörte, wie draußen ein Zug pfiff. Das war die Bayerische Oberlandbahn, die an der Praxis vorbeifuhr.
Wieder dämmerte sie weg. Dachte im Halbschlaf an das Kind, den Jungen. Und plötzlich bewegte er sich, trat gegen den Bauch – endlich. Er lebte. Und wollte weiterleben, dachte sie. Und zum ersten Mal während ihrer Schwangerschaft sprach sie mit ihm.
»Wir werden nicht sterben. Du hilfst mir. Tritt mich, dann bleibe ich wach. Und du bleibst am Leben. Hörst du?«
Das Ergebnis war ein Schmerz im Bauchraum, der so schlimm war, dass ihr übel wurde. Sie erbrach sich. Hielt starr den Kopf nach vorn, um nicht an ihrem Erbrochenen zu ersticken. Der Raum füllte sich mit saurem Gestank.
Der Stuhl hatte eine bewegliche Lehne. Sie schwang ihren rechten Arm nach links. Es gelang erst beim dritten Mal. Unendlich langsam hievte sie die Lehne nach oben. Arzu schwitzte. Ein gutes Zeichen? Wieder trat der Junge. Sie verzog vor Schmerz das Gesicht.
»Ich bin wach, mein Lieber«, zischte sie.
Der Mann hatte sich so sehr auf sein Betäubungsmittel verlassen, dass er sie nicht einmal gefesselt hatte. Arzu schob den Ultraschallwagen, so weit es ging, zur Seite, griff nach der Flasche mit dem Gel und verschüttete es auf den Boden.
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