Quercher 01 - Quercher und die Thomasnacht
kniff die Augen zusammen. Da lief er, keine hundert Meter entfernt. Auf dem Rücken trug er Ellis Sporttasche und er hatte etwas Langes in der Hand. Vielleicht noch dreißig Meter trennten ihn von einem Waldstück, das hinter der Wiese lag. Danach verlief der Weg rechts neben der Weißach entlang bis zum Ende der Schlucht. Quercher sah hoch hinauf zum Massiv der Blauberge, die Grenze zu Österreich. Es wirkte auf ihn wie eine von Giganten errichtete Steinwand. Da würde der Typ nie hochkommen. Er saß in der Falle. Nur die Nacht konnte ihn noch retten. Quercher lief weiter und sah dabei auf seine Uhr. Vielleicht noch zehn Minuten. Dann wäre es stockdunkel. Der Schneefall wurde immer dichter.
»Bleib hinter mir«, rief er, ohne sich zu Hannah umzudrehen.
Der Mann stoppte und wandte sich um. Jetzt sah er sie, und es war Quercher, als ob der Mann lachte. Aber das konnte er von seiner Position aus nicht wirklich erkennen. Quercher griff nach hinten, um seine nasse Waffe zu ziehen. Die Glock 17, die er trug, war robust. Aber sie hatte lange im kalten Wasser der Felsweißach gelegen.
Wieder lief der Mann ein Stück weiter, stoppte, griff nach dem Gewehr, das er auf dem Rücken trug, und streckte seinen Arm aus. Er legte die rechte in die linke Hand und visierte das Ziel an. Quercher hatte kaum Zeit zu reagieren. Blitzschnell drehte sich der Mann um, warf sich auf den Boden und schob das Gewehr nach vorne. Zwei Mal drückte er ab, ehe Quercher sich auf den Boden fallen ließ. Der Knall der Geschosse war extrem laut. Der Schall erhob sich von dem Schneefeld und prallte an den Felswänden in Tausenden Echos zurück. Quercher sah nach hinten. Wo war Hannah? Vermutlich hatte sie an der Hütte, die sie vorher passiert hatten, Deckung gesucht. Kluges Mädchen, dachte Quercher. Er drückte sich fest in den Schnee, grub mit Armen und Beinen eine Mulde und drückte auch Lumpi, die die ganze Zeit neben ihm gelaufen war, hinunter. Sie winselte. Die Hündin war nicht schussfest und hatte fürchterliche Angst bei Knallgeräuschen jeder Art.
Gegen einen Gewehrschützen wollte Quercher nicht antreten. Es war zwar nicht das erste Mal, dass jemand auf ihn schoss. Aber meist waren das Amateure gewesen, die ungeübt im Umgang mit einem Gewehr waren. Dieser hier wirkte sehr professionell. Vorsichtig lugte Quercher nach oben. Der Mann war wieder aufgestanden und machte sich Richtung Wald auf.
Und dann fiel der Schuss. Dann noch einer. Quercher sah nach rechts. Hannah stand knapp zwanzig Meter vor ihm auf der rechten Seite am Waldrand, ging mit schnellen Schritten auf den Mann zu, der sein Gewehr erhob und es auf Hannah richtete. Woher hatte sie die Waffe? Ein dritter Schuss. Der Mann wirbelte herum, schrie und fiel. Hannah schritt weiter auf ihn zu, wie ein Roboter, die Waffe in beiden Händen haltend und auf den Mann gerichtet.
Quercher erhob sich und schrie. »Lass die Waffe fallen, Hannah!«
Sie drehte sich nicht einmal zu ihm um. Er riss seine Glock in die Luft und feuerte einmal. Wieder dröhnte der Schall in der Schlucht.
Hannah hatte den Mann im Schnee erreicht, beugte sich zu ihm hinunter.
Quercher schrie erneut. »Lass ihn, Hannah! Ich komme jetzt rüber. Zeig mir deine Waffe. Los!« Das letzte Wort hatte er fast gekiekst. Würde sie ihn jetzt genauso kaltblütig töten? Wer war diese Frau? Tatsächlich hob sie jetzt ihre Schusshand und hielt die Waffe in die Luft.
»Wirf sie weg, Hannah, in den Schnee!«
Sie schüttelte den Kopf. Quercher ging auf unsicheren Beinen auf sie zu. Hannah stand breitbeinig da, die Waffe zwar immer noch in der Luft, aber sie ließ keinen Zweifel daran, sie sofort wieder zu benutzen. Quercher war jetzt drei Meter von ihr entfernt. Er blickte auf den Boden. Dort lag der Mann und presste seine Hände fest auf seinen Bauch. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Quercher hatte den Mann noch nie gesehen. Hannah entriss ihm die Sporttasche, senkte dann die Waffe, steckte sie in ihren Hosenbund und tat so, als ob nichts passiert wäre.
»Hannah, gib mir die Waffe«, bat Quercher leise.
Sie schüttelte wieder den Kopf.
»Hannah, bitte. Knall mich nicht auch noch ab. Wir müssen dem Mann helfen, mach schon.« Er sprach eindringlich, aber leise mit ihr. Mittlerweile war das Feld nur noch in sehr fahlem Restlicht getaucht.
Endlich sah Hannah ihn an. »Ich gehe jetzt. Wenn du ihn retten willst, bitte. Ich habe, was ich wollte.« Sie ging ohne jede Regung an ihm vorbei in Richtung der kleinen
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