Quercher 01 - Quercher und die Thomasnacht
einem kalten Ei.
»Was war das für ein Gebet, das Sie vorhin gesprochen haben?«
Sie atmete durch, drückte ihren Kopf gegen das abgewetzte Leder der Stütze. »Ach, erst war es so ein Kabbala-Mist. Habe ich in New York gelernt. Aber letztlich war es dann doch nur ein Vaterunser. Man kann eben nicht aus seiner Haut.«
Quercher schien es, als hätte sie für einen Moment die Tür zu irgendetwas geöffnet. Er schwieg eine Weile, ehe er versuchte, das Gespräch wieder aufzunehmen.
»Wie ist es mit Ihrer Familie nach dem Krieg weitergegangen?«, fragte Quercher in die Stille hinein.
Sie zündete sich eine Zigarette an, ohne zu fragen, ob es ihn stören würde. »Mein Großvater hat meinen Vater während eines Fronturlaubs gezeugt. Dann geriet er in Kriegsgefangenschaft, wo er starb. Meine Großmutter übernahm den Betrieb ihres Mannes. Das war eine kleine mittelständische Firma für Haushaltswaren, nicht weit von hier in Wolfratshausen. Sie kaufte und verkaufte. Und sie war dabei geschickt. Die Firma wurde größer und größer. Es ist eine Geschichte des Wirtschaftswunders. Der Sohn, mein Vater, wuchs in die Firma hinein und entpuppte sich als echter Geschäftsmann. Bereits Ende der Sechzigerjahre – mein Vater war noch sehr jung – hatte er ein kleines Imperium aufgebaut.«
»Und warum ist Ihre Bindung zu Ihrem Großvater, einem Mann, den Sie gar nicht kannten, so groß?«, hakte er stirnrunzelnd nach.
Er hatte vielleicht etwas zu unsensibel gefragt. Aber Hannah ließ es sich nicht anmerken. Es schien Quercher, als habe sie auf diese Frage gewartet.
»Meine Eltern gaben mir den Namen Hannah, weil er Hans am nächsten ist. Und meine Großmutter erzählte mir, dass ich meinem Großvater auch noch sehr ähnele. Sie haben sicher von dem Bootsunfall gelesen. Die Leichen meines Bruders, meines Vater und meiner Mutter wurden nie gefunden, nur Teile von … Der Atlantik hat sie einfach verschluckt. Und jetzt … Also … Jetzt habe ich endlich wenigstens …«
Er verstand. Der Großvater, auch wenn er tot war, war etwas Sichtbares.
Hannah drehte sich zu ihm, sah ihn lange an. Seine dünnen Haare, die lange große Nase, der breite Kiefer. Schlecht sah Quercher nicht aus. Für einen Augenblick fand sie ihn sogar fast ansprechend. Er wirkte gebrochen.
Jetzt durchbrach sie das Schweigen. »Wenn ich auch mal etwas fragen darf: Wie alt ist Ihr Vater?«
»War. Er ist tot. Er war Jahrgang 1922.«
»Dann war er Ihnen ein alter Vater. Wo war er im Krieg?«
»An der Ostfront. Er hat nie darüber geredet.« Das Thema war Quercher unangenehm. Auch wenn sich die Biografien seines Vaters und ihres Großvaters glichen, wollte er nicht mit dieser Frau darüber reden. »Sagen Sie, Frau Kürten, sind Sie sicher, dass die Leiche Ihr Großvater ist?«
»Was soll das?«
»Der Mann da oben, der starb nicht 1945. Der starb später.«
Sie sahen sich an. Sekundenlang. Seine muslimischen Freunde hatten ihm einst einen Satz aus der Moschee mitgegeben. Schau einer Frau nie länger als drei Sekunden in die Augen. Du könntest verloren sein. Quercher zählte schon zehn, als an die Tür des Unimogs geklopft wurde und sein Handy klingelte. Er öffnete dem Bestatter und dem Bergführer die Tür und nahm gleichzeitig das Gespräch an. Es war Arzu.
»Also, es ist eine hohe genetische Übereinstimmung zwischen Hannah und der Leiche festgestellt worden.«
Quercher rutschte ans Fenster, sodass Hannah in der Mitte Platz nehmen konnte, während die beiden Männer die nunmehr verpackte Leiche auf die Ladefläche hievten, dorthin, wo sonst Streusalz oder Grünabfälle lagen.
Kapitel 8
Tegernsee, Dienstag, 19. 12., 11.45 Uhr
»Du ziehst dir die Haut des Toten über. Damit bist du er und trägst auch seine Verantwortung.«
Dr. Lioba Handlanger sah die beiden Männer lächelnd an. Sie besaß das eigentümliche Talent, Rechtsfragen in harte, aber verständliche Bilder zu packen. Der liebe Gott und die Gene ihrer Vorfahren hatten ihr einen Überschuss an Klugheit und ein erhebliches Defizit an Attraktivität mitgegeben. Sie war am Tegernsee aufgewachsen, aber mit dem Wechsel an eine Universität hatte sie Bayern den Rücken gekehrt und war erst nach Promotion, erfolgreicher Karriere und gescheiterter Ehe mit einem Investmentbanker zurückgekommen. Ihr Schwerpunkt war Privat- und Gesellschaftsrecht. Und gerne hielt sie Monologe über die diffizilen Fälle, die sich aus Schenkung, Erbschaft, Kauf oder Leihe ergaben.
Ihre Kanzlei lag
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