Quercher 01 - Quercher und die Thomasnacht
Hannah, Straßberger und der Bergführer leicht vorankamen. Quercher sah den umgestürzten Baum, eine Buche. Er blickte noch einmal zu Hannah.
»Sagen Sie Bescheid, wenn es Ihnen nicht gut geht. Das wird nicht schön aussehen.«
Sie schritt an ihm vorbei.
Er hielt sie fest und ließ sich auch nicht von der Wut in ihren Augen beeindrucken. »Das ist ernst gemeint. Fahren Sie mal Ihre Divanummer etwas runter.«
Quercher hatte schon viele Leichenfundorte in seinem Leben sehen müssen. Nie hatte er sich daran gewöhnt. Nicht ohne Grund war er von der Mordkommission schnell in den Staatsschutz gewechselt. Das Akribisch-Distanzierte dieser Arbeit hatte ihm nie gefallen. Und an diesem Morgen war es bereits die zweite Leiche, die er betrachten musste.
Die Stiefel sah er zuerst. Die Wurzeln des Baumes, die sich fächerförmig über dem Boden gebildet hatten, stakten wie die Strahlen einer Sonne empor und hatten die Kalkhöhle über Jahrzehnte versteckt. Jetzt hatte der kräftige Baum nicht nur die Erde, sondern auch ganze Gesteinsbrocken mitgerissen, als er von Birmoser unsachgemäß gefällt worden war. Der hatte das Fallen des Baums falsch berechnet. So war das gesamte Wurzelwerk herausgezogen worden. Trotz der großen Kälte floss Wasser durch den geborstenen Kanal, in dem der tote Körper lag.
Hannah suchte Halt, griff nach einer herausstehenden Wurzel, die sofort einknickte. Sie kippte fluchend nach vorn in den Schnee. Straßberger half ihr sofort wieder auf. Hannah war kalkweiß.
Die Leiche war nicht groß, vielleicht hundertfünfzig Zentimeter. Gesicht und Leib waren schwarz verfärbt, an einigen Stellen sah man den grauen Ton der Knochen, aber immer noch, so schien es, war die Leiche mehrheitlich von Fleisch umgeben. Mit den tiefen, sehr großen Augenhöhlen wirkte der Körper absurd lebendig. Der Mund schien schreien zu wollen. Die Lippen waren zur Nase gezogen, zeigten die gelben Zähne, und die Kiefer standen weit auseinander. Die Stellen des Körpers, die nicht von der zerfetzten und brüchig wirkenden Uniform bedeckt waren, schienen von einer glatten, fast gallertartigen Schicht umhüllt zu sein. Beide Hände waren knapp über der Hüfte emporgereckt, als ob sie etwas abhalten wollten. An der Uniform waren zwei rostige Orden zu sehen. Ein Eisernes Kreuz und ein Abzeichen, das Quercher nicht identifizieren konnte.
Quercher zog seine Fäustlinge aus, streifte sich Gummihandschuhe über und kniete sich über die Leiche. »Habt ihr hier irgendetwas gefunden? Gegenstände, Habseligkeiten?«
Straßberger sah zu Hannah. Sie hatte sich abgewendet und sich eine lange, schmale Zigarette angezündet. Er ging ebenfalls in die Hocke. »Max, das ist kein Tatort. Wir bergen die Leiche und dann ist das hier abgeschlossen. Spiel jetzt nicht CSI. Ich habe genug für heute.«
Quercher nickte gedankenverloren, ehe er sich ächzend erhob. »Also, Ihr Großvater ist wann geboren?«, fragte er in Hannahs Richtung.
»Warum?«
»Sie sollen ja den Richtigen mitnehmen.«
Statt Hannah antwortete Straßberger. »Das haben wir schon festgestellt. Er war Mitte Mai 1945 aus einem Trupp von Kriegsgefangenen, die bei München interniert waren, geflohen.«
Hannah drehte sich nicht um.
»Das ist seine Kleidung. Das ist seine Nummer«, ergänzte sie. »Ich habe ein Schwarz-Weiß-Foto von ihm gesehen. Es stand bei meinen Eltern im Glasschrank. Die Nummer hat uns das Bundesarchiv in Freiburg bestätigt.« Sie atmete tief durch. »Dank der deutschen Gründlichkeit weiß ich also, dass das mein Großvater Hans Kürten ist. Und jetzt wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn ich einen Augenblick für ein Gebet hätte.«
Quercher sah wieder auf die Schuhe der Leiche. Jemand drückte auf seine Schulter.
»Wir sollten sie in Ruhe lassen. Komm jetzt.«
Gemeinsam mit Straßberger und dem Bergführer rutschte Quercher ein Stück den Berg hinab und ließ Hannah allein. Die drei Männer standen mit ihren Teebechern vor der Hütte und redeten leise miteinander.
Straßberger nahm Quercher zur Seite. »Ist in München und Düsseldorf ein wenig Gras über die Sache gewachsen?«
Er hatte es freundlich formulieren wollen. Aber Quercher reagierte unwirsch. »Was willst du mir sagen? Dass ich falsch gehandelt habe damals? Du bist auch der Meinung?«
Straßberger sah ihn an. »Diese Junktim-Leute lagen nicht immer falsch, wenn du mich fragst. Aber du hast getan, was du tun musstest, weil …«
»Genau, weil ich ein Polizist bin. Und Polizisten klären
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