Quercher 01 - Quercher und die Thomasnacht
später hatten sie bei einem befreundeten Arzt, einem Orthopäden, gehalten, den Quercher kurz zuvor angerufen hatte. In dessen Keller legten sie Plane samt Inhalt in eine große Kühltruhe.
»Das ist Dr. Appel. Er hält den Mund und wird die Leiche noch einmal untersuchen. Er ist mir noch etwas schuldig«, hatte Quercher in Richtung des missmutig blickenden Arztes gesagt.
Dann waren sie zu der Aral-Tankstelle im Ort gefahren, Quercher hatte dort ein Duftspray erworben und war anschließend mit zu viel Oleanderduft im Wageninneren nach Kaltenbrunn gefahren.
»Also, wer ist das da in der Kühltruhe meines Freundes? Ihr Großvater ist es nicht. Und Sie wissen das.«
Hannah wirkte immer noch wie unter Schock. Vielleicht löste das ihre Verstocktheit.
Der Wind, der von Süden her über den See fegte, blies ihr immer wieder Schneeflocken ins Gesicht. Sie sah gedankenverloren auf den Boden, wo der Rest ihrer Zigarette im Schnee verglühte.
»Das ist mein Großvater. Aber er war offensichtlich nicht der, für den wir ihn gehalten haben.«
Es war die Stille. Quercher wusste es. Schnee fiel, ein Auto fuhr vorbei. Dann wieder Stille. Keine Ablenkung, nichts, was das gerade in ihm Aufkeimende hätte übertönen können. Vor dem Untersuchungsausschuss in Berlin hatte ihn das erste Mal eine Panikattacke angesprungen. Auf der Herrentoilette des Bundestages. Einfach so. Ohne Vorwarnung. Seitdem aber kannte er ihre Vorzeichen. Und jetzt kroch sie irgendwo in ihm hoch. Dieser Fall hier konnte alles, was er für die nächsten Jahre plante, zerstören. Es war seine Eitelkeit. Und seine Sturheit, die ihn wieder gegen alle Regeln verstoßen ließ. Sein psychisches Immunsystem – so hatte es seine Ärztin erklärt. Das müsse er schützen. Und das war jetzt …
Na ja, egal. Er stapfte zum Auto zurück. Ohne ein Wort zu sagen. Seine zitternden Hände vergrub er tief in seinen Jackentaschen. Hannah sollte nichts merken. Er riss die Beifahrertür so schnell auf, dass Lumpi auf der Sitzbank hochfuhr und bellte. Quercher drückte das Handschuhfach auf, wühlte immer ärgerlicher darin herum, ehe er die Tabletten fand. Er drückte zwei Pillen aus dem Plastik heraus, griff in den Schnee, steckte sich beides in den Mund und sank auf den Sitz. Lumpi steckte ihre lange Schnauze unter seinen Arm. Sie wollte nicht trösten. Sie wollte Beachtung. Er streichelte sie geistesabwesend.
Dann stand sie vor ihm. Auch ihre Hände zitterten. »Ich bin Hannah«, sagte sie leise.
»Max«, kam nur tonlos von ihm.
Sie reichte ihm die Hand.
Er griff danach und sie ließ nicht wieder los.
»Rutsch durch.«
Er drängte Lumpi beiseite, schob sich selbst vor das Lenkrad, während Hannah Kürten einstieg. Kaum saßen sie wieder, ergriff sie seine Hand. Es war ihm nicht unangenehm. Ihre langen schmalen Finger waren auch ohne Handschuhe warm. Er kannte keine Frau mit dieser Eigenschaft. Jedenfalls beruhigte ihre Wärme seine Dämonen. Das spürte er, auch wenn er es nicht zugegeben hätte.
Leise begann sie zu reden. »Ich erzähle dir von dem Unfall. So wie es wirklich passierte, nicht das, was die Journalisten geschrieben haben. Wir hatten vor fünfzehn Jahren in den USA ein großes Boot. Mein Vater war ein begeisterter Segler. Er hatte das Segeln als Kind hier auf den bayerischen Seen gelernt. Die Saison war schon zu Ende. Mein Vater, so erzählte es mir ein Hausangestellter, bekam Besuch von einem Mann aus Deutschland. Sie schienen sich gut zu kennen. Irgendwann beschlossen er und dieser Mann zu segeln. Sie wollten unbedingt hinaus aufs Meer vor Nantucket. Das liegt an der Ostküste der USA.«
Quercher nickte.
»Meine Mutter und mein Bruder fuhren mit. Nach Aussagen der Küstenwacht steuerten sie in eine dichte Nebelbank. Ein Containerschiff aus Kanada kreuzte und rammte sie. Wochen später fand man die Überreste von drei Menschen. Es waren meine Eltern und mein Bruder. Von der vierten Person gab es keine Spur. Der Hausangestellte, der mir von dem Mann aus Deutschland erzählt hatte, zog später seine Aussage zurück und verschwand dann in seine Heimat nach Mexiko.«
Lumpi streckte ihren Kopf nach vorn über die Sitze und Quercher streichelte gedankenverloren ihre langen Ohren. »Was ist deine Vermutung? Deine Familie fiel einer riesigen Verschwörung zum Opfer?«
»Warte, die Geschichte geht weiter. Im Nachlass meines Vaters fand ich eine Gesprächsnotiz. Ein Historiker aus Deutschland hatte sich an meinen Vater gewandt. Er recherchierte zur
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