Quercher 01 - Quercher und die Thomasnacht
Wiessee gelangen. Hier betrug der Abstand zwischen der Insel und dem Ufer nur noch hundert Meter. Langsam tastete er mit einer Hand nach seinem Telefon und zog es so weit aus der Jackentasche, dass er das Display aus den Augenwinkeln sehen konnte. Er drückte auf eine der letzten Nummern auf der Anrufliste. Das war Arzu. Er zog das Smartphone langsam an sein Ohr. Es klingelte verdammt lange. Dann sprang die Mailbox an. Quercher fluchte leise. Die blöde Kuh war beim Frauenarzt. Er drückte die nächste Nummer. Hannah. Sie nahm das Gespräch sofort an.
Ohne große Erklärung flüsterte er: »Komm bitte zum Haus Seeblick , auf Höhe der Ringseeinsel. Direkt an den Steg. Anke erklärt dir, wo das ist.«
»Was ist mit dir? Was ist los? Wo bist du?«
»Hannah, mach einfach.«
Wenige Zentimeter vor ihm schlug ein Geschoss ein, gefrorene Erde spritzte in sein Gesicht. Er wälzte sich nach rechts, um dann wieder geradeaus zu hechten. Ein Blässhuhn, schwarz und mit einem weißen Fleck auf dem Kopf, hatte vor ihm gesessen und flog jetzt schnatternd auf. Sofort sprang Quercher weiter und rollte sich in das Dickicht. Hier müsste er sicher sein, solange der Schütze seine Position nicht änderte. Das war eine Frage der Zeit.
Wie schnell würde er über das Eis kommen? Von hier aus konnte Quercher das Ufer von Bad Wiessee sehen. Er erkannte die Pension Seeblick . Das war sein Ziel. Er sah den blauen Benz. Hannah musste die Angst in seiner Stimme erkannt haben und gerast sein. Ein warmes Gefühl der Zuneigung durchströmte ihn. Er erhob sich und rannte los. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Unter ihm lag irgendwo sein Vater. Sie hatten ihn nie gefunden. Er rannte, rutschte, fiel hin. Jeden Moment rechnete er mit einem Treffer. Quercher schlug Haken, fiel wieder, schlug sich das Knie am harten Eis auf. Noch dreißig Meter. Er war trainiert. Aber er konnte nicht mehr richtig auftreten. Das Knie knickte weg. Er humpelte und sprang. Quercher sah, wie Hannah aus dem Wagen stieg. Er winkte. Schrie, sie solle im Wagen bleiben. Dann erreichte er die Uferzone, fiel erneut, zog sich an vereisten Grasbüscheln hoch und humpelte weiter zu seinem Auto.
»Fahr los.«
Kapitel 34
Gmund, Mittwoch, 20. 12., 13.26 Uhr
Quercher war ein echtes Arschloch, dachte Arzu, als sie sich von Ankes Mann nach Gmund zum Frauenarzt fahren ließ. Er hatte sie schlicht mit Hannah ausgetauscht. Diese Elli konnte den ersten wirklichen Einstieg in den Fall bedeuten. Und ausgerechnet jetzt sollte sie nicht dabei sein!
Sie wollte die Arztgeschichte schnell hinter sich bringen. Im Radio liefen die Wetternachrichten. Wieder wurde vor einem Unwetter mit erhöhter Lawinengefahr und starkem Schneefall gewarnt.
Sie fuhren am nördlichsten Punkt des Sees vorbei, wo Quercher gestern auf dem Eis gelandet war. Ein prachtvoller Blick auf das Tal und den See tat sich auf. Hier war wirklich ein schöner Flecken.
Der Arzt öffnete ihr die Tür. »Guten Tag, ich bin Dr. Pauly. Sie sind …?«
»Arzu Nishali, ich bin hier zu Besuch. Und …«
»Verstehe, Sie hatten sich heute Morgen angemeldet. Kommen Sie bitte mit. Hier ist mein Behandlungszimmer.«
Arzu war von Dr. Pauly beeindruckt. Er war groß, äußerst muskulös, athletisch und wirkte sehr konzentriert.
»Den Mutterpass haben Sie dabei?«
Arzu nickte. »Hier ist er.«
»Gut.«
Es war nur ein Gedankenblitz. Aber Arzu fand die Situation befremdlich. Sie war jetzt allein mit dem Arzt. Niemand war da, wenn … Aber sie vertraute ihm und lief hinter dem Arzt in das Behandlungszimmer.
»Setzen Sie sich doch erst einmal. Ist es etwas Dringendes? Ich sehe in Ihrem Mutterpass, dass Sie eigentlich in München bei einer Kollegin in Behandlung sind.«
Arzu setzte sich vor seinen Schreibtisch, musterte kurz die Wand hinter ihm, wo diverse Holzbretter mit eingeprägten Wappen hingen.
»Ja, ich habe das Gefühl, dass sich … also … nichts mehr bewegt.« Sie deutete auf den Bauch.
Pauly las weiter in ihrem Mutterpass. »Ihr Termin ist ja Ende Januar. Das sind noch vier Wochen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Sie das Kind nicht immer spüren. Wir schauen uns das einmal an.« Er zeigte auf den Behandlungsstuhl. »Wenn Sie sich einmal freimachen würden. Ultraschall kennen Sie ja.«
Sie zog sich aus und setzte sich auf den Behandlungsstuhl. Arzu erschrak, als Dr. Pauly das kalte Sonografie-Gel mit seinen behaarten Händen und einem Schaber über ihren Bauch verteilte.
»Machen Sie Ferien hier im
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