Quercher 01 - Quercher und die Thomasnacht
erkennen. Rieger schien genau darauf zuzusteuern.
»Sie wollen diesen Fall in Wiessee aufklären. Weil Sie eine Leiche gefunden haben, mit der etwas nicht stimmt.«
Quercher nickte, sagte nichts und dachte: den Gegner kommen lassen, nie mehr reden als der andere.
Tatsächlich erreichten sie die Ringseeinsel kurze Zeit später. Quercher kannte sie. Als Kinder waren sie dorthin geschwommen. Später als Teenager war es der Platz gewesen, um ungestört zu knutschen. Dann drohte die Insel abzusacken. So wurde sie zum Naturschutzareal umgewidmet. Niemand durfte sie seitdem betreten. Aber die Insel hatte noch ein Geheimnis, das nur wenige Einwohner, meist alte Menschen, kannten.
»Hier … Ich habe ein wenig Proviant für einen Zwischenstopp mitgebracht.« Rieger nahm den Rucksack von seinem Rücken, löste mit seinen Stöcken seine Schuhe aus der Bindung der Skier und betrat die von Schilf und hohen Gräsern bewachsene Insel.
Quercher stand noch auf dem See. »Sie wissen schon, dass das ein Naturschutzgebiet ist, Herr Dr. Rieger?«
Der drehte sich um und lächelte. »Der Verein zur Erhaltung der Insel bekommt umfangreiche Spenden. Das ist das Schöne an diesen Talbewohnern. Man spendet eine Eisbahn, einen Kindergarten. Und schon begegnet einem eine Welle der Herzlichkeit. Man wollte mich schon in Öl malen. Kein Witz. Habe ich aber abgelehnt. Mich interessieren Orte der Kontemplation. Wie dieser hier. Ich bin hier in offiziellem Auftrag als Vogelbeobachter. Kommen Sie, Sie schräger Vogel, setzen Sie sich.«
Auch Quercher löste sich von seinen Skiern, nahm sie in seine Hände und trug sie auf die Insel hinüber, wo Rieger schon den Schnee von einem am Ufer eingefrorenen Baumstamm löste.
Quercher sah sich um. »Wussten Sie, wer sich hier gerne rumtrieb?«
Rieger schüttelte den Kopf, während er eine Thermoskanne und zwei in Papier eingewickelte Semmeln, die mit Kalbsfleischwurst und Salami belegt waren, auspackte.
Quercher deutete Richtung Wiessee. »Ihnen als Mitarbeiter des BND mit seiner braunen Vergangenheit dürfte doch nicht die illustre Gesellschaft, die dort urlaubte, verborgen geblieben sein?«
Rieger verstand nicht.
Quercher wollte sticheln, wollte sehen, worauf Rieger ansprang. »Ernst Röhm, Führer der SA, und seine kleinen Freunde stiegen ja sehr gern in einem Hotel in Wiessee ab und …«
»Das ist mir bekannt«, unterbrach Rieger, nunmehr kein Lächeln mehr auf den Lippen.
»Fein«, fuhr Quercher fort. »Hier auf dieser Insel hat er sich mit seinen Lustknaben vergnügt. Wir sitzen sozusagen auf historischem Boden. Aber dann haben die Nazis dieses Treiben früh genug unterbunden und ihn noch rechtzeitig hingerichtet, nicht wahr, Herr Rieger? Aber Röhm war ja nicht der Einzige. Arthur Axmann, der HJ-Führer, Bormann, Hitlers Privatsekretär und Kettenhund und natürlich Heinrich Himmler waren hier. Der Himmler durfte aber auf der anderen Seite des Sees wohnen. Nicht weit von Ihnen entfernt, nicht wahr? Genossen alle die gute Luft und die schöne Aussicht. Hitlers Helfer und oberster Jagdmeister Göring wollte das Tal sogar einst ›entvölkern‹ und als riesiges Jagdgebiet ausbauen. Das ist dann aber doch an der Starrköpfigkeit der Einwohner gescheitert. Und auf dem Friedhof liegt der alte General Kesselring. Ja, der, der in Italien für diverse Massaker an Zivilisten verantwortlich war. Eine Schautafel mit den örtlichen Prominenten zeigt, wo sein Grab genau liegt. Damit man dort auch einen Kranz hinlegen kann und nicht bei einem der armen Frontschweine, die irgendwo im russischen Osten verreckt sind. Hier ist die Welt noch in Ordnung.«
Quercher merkte, dass Rieger darauf eingehen und etwas Scharfes erwidern wollte. Aber dann hatte er sich wieder im Griff. »Ich höre gern von Einheimischen ihre Sicht auf die Dinge. Aber lassen Sie bitte den Dienst außen vor. Der Dienst war einst ein scharfer Wachhund. Das lag vor allem an seinen Mitarbeitern, die mit Leidenschaft und Diskretion umgehen konnten. Ja, wir hatten einst in den Nachkriegsjahren Veteranen in unseren Reihen. Wer hätte es denn sonst machen sollen? Ich muss Ihnen doch nicht erklären, dass wir mit unseren neuen Freunden, den Amerikanern, einen gemeinsamen Feind hatten. Das waren die Kommunisten. Aber heute sieht der Dienst doch ganz anders aus. Heute ist er nur noch ein müder Köter.«
Stille.
Am Horizont wurde es bereits langsam dunkler. Aber noch stach das Blau des Winterhimmels zu ihnen herab. Rieger biss in seine
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