Querschläger
und spießig« vorgekommen sei. Und in seinem einstigen Glanzfach, Deutsch, hatte er sich wiederholt mit seiner Lehrerin angelegt, ohne sich jedoch auch nur ein einziges Mal gegen sie durchsetzen zu können.
Karen Ringstorff, dachte Winnie Heller, die Frau, die nicht dort gewesen ist, wo Hrubesch sie vermutet hat …
Sie kramte einen Ausdruck von Hrubeschs Porträtfoto hervor und betrachtete nachdenklich die tiefen Schatten, die unter den wachen, dunklen Augen lagen. Natürlich kannte sie die Faktoren, die zu einer Bluttat wie der am Clemens-Brentano-Gymnasium führen konnten, und wiederholte Kränkungen standen definitiv ganz oben auf der Liste der möglichen Auslöser. Aber konnte man in Nikolas Hrubeschs Fall tatsächlich von einer psychosozialen Entwurzelung sprechen? Von einem gravierenden Verlust gesellschaftlicher Integration? Wohl kaum, dachte Winnie Heller, indem sie einen ungelenken Fisch auf das leere Blatt kritzelte, das sie sich für etwaige Notizen zurechtgelegt hatte. Mag sein, dass der Wunsch nach Rache bei Hrubeschs Plänen eine gewisse Rolle gespielt hatte, aber nach allem, was sie bislang wussten, durfte dieser Aspekt auf keinen Fall allzu offen zutage treten. Schließlich war es doch wohl eher um eine Art blutrünstiges Spiel gegangen. Ein Spiel wohlgemerkt, ergänzte Winnie Heller, bei dem Nikolas Hrubesch mit dem Leben davonkommen wollte. Sie stutzte, als ihre Augen an einem Satz hängen blieben, den sie sich handschriftlich auf eins von Höppners Informationsblättern notiert hatte: Soll in der Zeit vor seinem Amoklauf von Schülern seines Jahrgangs gemobbt worden sein.
Wann hatte sie das geschrieben? Während der ersten Besprechung in der Einsatzzentrale? Winnie Heller nickte leise vor sich hin, als ihr einfiel, dass Höppner bei dieser Gelegenheit tatsächlich etwas Derartiges erwähnt hatte.
Von Mitschülern gemobbt …
Von Schülern seines Jahrgangs …
Sie suchte die Liste der Todesopfer aus der Akte und überflog zum x-ten Mal die Namen. Vier Lehrer, sechs Schüler und die Schulsekretärin. Aber nur drei der Getöteten waren in Hrubeschs Jahrgang gewesen. Und unter diesen dreien befand sich lediglich ein einziger Junge. Lukas Wertheim, dachte Winnie Heller, unser Wackelkandidat!
Lukas Wertheim war in Raum 304 gestorben, jenem Klassenzimmer, das Nikolas Hrubesch aufgesucht hatte, gleich nachdem er sich im Lehrerzimmer nach seiner Intimfeindin Karen Ringstorff erkundigt hatte. Warum hat er das eigentlich getan?, überlegte Winnie Heller weiter, ohne sich bewusst zu sein, dass sich ihre Gedanken bereits wieder dem nächsten Problem zugewandt hatten. Der nächsten offenen Frage. Warum hatte Nikolas Hrubesch riskiert, explizit nach einer ganz bestimmten Person zu fragen? Gut, er hatte Inge Naumann, die Frau, der er die bewusste Frage gestellt hatte, hinterher erschossen. Aber sie waren gehört worden. Jemand hatte mitbekommen, was in diesem Lehrerzimmer vor sich gegangen war. Jemand, der in der Nähe gewesen war. In irgendeinem der anderen Räume. Was, wenn Hrubesch überlebt hätte, dachte Winnie Heller, wenn sein Plan tatsächlich aufgegangen wäre? Wäre es da nicht mehr als dumm gewesen, wenn sich jemand an seine Worte erinnert hätte? Wenn jemand der Polizei verraten konnte, dass der Attentäter hinter einer ganz bestimmten Person her gewesen war? Oder hatte dieser Junge sich ganz einfach fortreißen lassen? War das Gefühl von Macht, von Allmacht, so groß gewesen, dass er sein Handeln nur noch bis zu einem gewissen Grad unter Kontrolle gehabt hatte? Und war es am Ende vielleicht gerade dieser Umstand gewesen, der den zweiten Schützen, den sie suchten und der vielleicht einmal Nikolas Hrubeschs Partner gewesen war, dazu veranlasst hatte, ihn zu töten?
Winnie Heller seufzte und vergrub das Gesicht in den Händen. Eines immerhin stand fest: In diesen Tagen gab es entschieden mehr Fragen als Antworten!
Schicksalsergeben nahm sie sich noch einen Kaffee und fing von vorne an. Las Berichte. Betrachtete Fotos von Zeichnungen, die Nikolas Hrubesch gemacht hatte. Von grellbunten Temperabildern, die Höppners Leute im Zimmer des jungen Attentäters sichergestellt hatten. Dieses Zeug, das er Kunst nannte, war nichts weiter als stumpfsinniger Müll, der zufällig den Geschmack seines Kunstlehrers traf, hörte sie Sven Strohtes Stimme flüstern, und bei der Betrachtung von Nikolas Hrubeschs sogenannten Kunstwerken konnte sie nicht umhin, dem jungen Pianisten zuzustimmen. Trotzdem hatte
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