Querschläger
Kein Gefühl, keinen Instinkt, der mir gesagt hat, was Sache ist.« Sie hielt inne und schüttelte langsam den Kopf. »Ich meine, natürlich spürst du, wenn dich der eine oder andere Schüler nicht leiden kann. Man merkt, wo man auf Ablehnung stößt. Auf Unverständnis. Und von mir aus auch auf Aggressionen. Aber ein solches Ausmaß an Hass, das ist …« Sie unterbrach sich erneut, bevor sie in gänzlich anderem Tonfall hinzufügte: »Weißt du, dass ich noch immer einen Aufsatz von ihm zu Hause auf meinem Schreibtisch liegen habe?«
»Von Hrubesch?«
Karen Ringstorff nickte eine Weile stumm vor sich hin. »Er ist schon benotet, eine Vier minus, und glaub mir, damit wäre dieser Bursche noch verdammt gut bedient gewesen. Aber kannst du dir vorstellen, wie oft ich diesen blöden Aufsatz gelesen habe seit Dienstag? Ich habe jedes verdammte Wort gelesen, das diesem Jungen zu Goethes Lilli-Lyrik in den Sinn gekommen ist, wieder und wieder, Satz für Satz. Und ich finde einfach nichts, das verrät, wie krank der Geist gewesen ist, der hinter diesen Zeilen steckt. Wie hasserfüllt und krank.« Sie zuckte resigniert mit den Achseln. »Alles, was ich sehe, sind ein Haufen inhaltsarmer Sätze und ein paar Dutzend Kommafehler.«
Gegen ihren Willen musste Carola Mahler schmunzeln. »Aber wenn du zulässt, dass Nikolas Hrubesch dir jetzt auch noch das Unterrichten wegnimmt«, sagte sie, nun wieder vollkommen ernst, »dann räumst du ihm einen Sieg ein, der ihm nicht zusteht.«
»So siehst du das?« Karen Ringstorff war ehrlich überrascht.
»Ja«, nickte Carola Mahler. »So sehe ich das.«
»Wenn ich nur endlich aufhören könnte, über bestimmte Dinge nachzudenken.«
»Über was für Dinge?«
»Warum Beate Soltau nicht in ihrem Büro war …«
»Herrgott noch mal, Karen, das hatten wir doch alles schon.« Carola Mahler tastete über den Tisch hinweg nach der Hand ihrer Freundin, die eiskalt war. Dabei hatte Karen immer warme Hände gehabt. Seit sie einander kannten. »Es gibt solche Zufälle«, sagte sie. »Von mir aus kannst du es auch Schicksal nennen. Oder Vorsehung. Oder was auch immer.« Sie wartete auf eine Reaktion ihrer Freundin, doch Karen Ringstorff schwieg. »Ich meine, warum sitzt jemand in einem Flugzeug, das abstürzt, und ein anderer gerät auf dem Weg zum Flughafen in einen Stau und verpasst den Unglücksjet?«, fuhr Carola Mahler fort, weil sie das Gefühl hatte, das es auf keinen Fall still bleiben durfte zwischen ihnen. »Warum kriecht einer fast unversehrt aus einem komplett demolierten Wagen, während seine drei Freunde, die neben ihm saßen, auf der Stelle tot sind?« Sie ließ die Hand ihrer Freundin los, als eine Kellnerin an ihren Tisch trat und fragend auf ihre leere Tasse zeigte. Carola Mahler nickte und wartete, bis die Bedienung wieder verschwunden war. »Weißt du«, sagte sie dann, »ich habe mal einen Artikel über eine junge Frau gelesen, die auf dem Rückflug von einer Urlaubsreise in die Karibik mit dem Flugzeug abstürzte und starb. Die Eltern waren außer sich vor Trauer und konnten nicht aufhören, sich das Hirn zu zermartern, warum ihre Tochter ausgerechnet den Unglücksjet genommen hatte, denn eigentlich sollte sie schon eine Woche früher zurückkommen. Aber dann haben diese Leute einen Brief bekommen, von einem Ehepaar, das in derselben Ferienanlage Urlaub gemacht hatte wie ihre Tochter. Und dieses Ehepaar erzählte den Eltern, dass die junge Frau bereits in der ersten Woche ihres Urlaubs beinahe ertrunken wäre. Jemand hat sie damals noch im letzten Moment aus dem Wasser ziehen können. Aber dann bekam sie eine Erkältung oder die Grippe und konnte nicht zum geplanten Termin nach Hause fliegen. Also buchte sie ihren Flug um, doch als sie eine Woche später zum Flughafen kam, war die Maschine, für die sie reserviert hatte, überbucht, und sie musste auf den nächsten Flug warten. Und das war die Unglücksmaschine.« Carola Mahler warf ihrer Freundin, die noch immer vollkommen regungslos aus dem Fenster starrte, einen eindringlichen Blick zu. »Ich glaube fest daran, dass in dieser Welt nichts ohne Plan geschieht. Und bei dir war es einfach noch nicht so weit, okay?«
»Ich weiß nicht.«
»Was? Ob es so was wie Schicksal gibt?«
»Nein.« Karen Ringstorff runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich meine diese Sache von vorgestern. Irgendetwas daran stimmt irgendwie nicht. Da ist etwas, das ich gesehen oder gehört habe … Etwas, das nicht ins Bild passt, verstehst du? Aber
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