Querschläger
die Packung bereits angebrochen war, entschied sie, die Reste wegzuwerfen. Immerhin waren Werther, Wieland, Wolfgang, Wuschel, Winona und Irmgard inzwischen aus dem Gröbsten raus, und wenn John Sinclair und Waltraud einmal wieder über Nachwuchs nachdenken sollten, konnte sie immer noch in die Zoohandlung fahren und neue Babynahrung kaufen. »Da haben wir euch ja schon ganz hübsch groß gekriegt, was Leute?«, sagte sie, indem sie die Finger gegen das kühle Glas legte. »Tja, John, deine Jungs sind dir gehörig über den Kopf gewachsen, und wenn du nicht aufpasst und dir ein bisschen mehr Mühe gibst, ist deine Autorität bald ganz im Eimer.«
Sie lachte und setzte Fischfutter und Vitaminpillen auf ihre Einkaufsliste. Dann kehrte sie an den Tisch zurück, wo die Mappe mit den Berichten lag, die sie sich mit nach Hause genommen hatte. Ein erstes psychologisches Profil des Amokschützen, basierend auf dem Material, das Höppners Leute unterdessen zusammengetragen hatten. Aussagen der Familie. Protokolle von Befragungen. Dossiers.
Winnie Heller überflog die ersten Seiten, die sie inzwischen beinahe auswendig kannte, und dachte, dass sich das Bild, das sie sich in den letzten Tagen von Nikolas Hrubesch gemacht hatten, allmählich verfestigte. In den ersten zwölf Jahren seines Lebens war der junge Attentäter definitiv das gewesen, was man einen ganz normalen Jungen nannte. Unauffällig. Begabt in der Schule. Ministrant, Mitglied im Fußballverein. Im Alter von dreizehn war er zum ersten Mal unangenehm aufgefallen, als er einem Jungen aus seiner Mannschaft die Nase blutig geschlagen hatte, nachdem dieser ihn einen »schwulen Pisser« genannt hatte. Mit vierzehn hatte er sich in ein zwei Jahre älteres Mädchen verliebt, das ihn abblitzen ließ, und in der Folgezeit hatte er einige Kurzzeitlieben gehabt. Alles vollkommen normal und altersgemäß. Die üblichen pubertären Fummeleien, wie einer der Zeugen es formuliert hatte.
Winnie Heller rieb sich die Augenwinkel, als wie aus dem Nichts das Bild eines pickligen Knaben vor ihrem inneren Auge auftauchte. Timo Wendel, der Junge, an den sie nach bestandenem Abitur ihre Unschuld verlieren wollte und der neben ihr auf der Bettkante gesessen hatte, als ein Polizeipsychologe ihr eröffnet hatte, dass ihre Eltern und Elli auf dem Nachhauseweg von ihrer Abiturfeier mit dem Wagen verunglückt seien und dass ihre kleine Schwester mit schwersten Kopfverletzungen auf der Intensivstation läge …
Sie strich sich mit ein paar groben Bewegungen die störrischen Ponyfransen aus der Stirn und beeilte sich, ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Fall zu lenken, bevor weitere unbequeme Erinnerungen über sie hereinbrechen konnten. Kurz nach seinem fünfzehnten Geburtstag hatte Nikolas Hrubesch ohne erkennbaren Grund begonnen, sich mehr und mehr von der Welt zurückzuziehen. Er hatte mit dem Sport aufgehört und seine Freunde nicht mehr getroffen. Stattdessen hatte er sich eingeredet, Schriftsteller werden zu müssen, und er hatte einen Haufen düsterster Science-Fiction-Storys verfasst, von denen er einige sogar an einen Verlag geschickt hatte. Doch der Erfolg war ausgeblieben, ein Umstand, den Hrubesch – zumindest laut Aussage seiner Mutter – der »Ungerechtigkeit dieses gesamten bekackten Systems« und nicht etwa der mangelnden literarischen Qualität seiner Ergüsse zugeschrieben hatte. Ansonsten war er offenbar beständig auf der Suche gewesen. Mal hatte er sich mit ostasiatischer Weisheitslehre und der Philosophie der Shaolin-Klöster befasst, dann wieder mit »irgendwelchen kruden Verschwörungstheorien über Rosenkreuzer und geheime Logen«, die angeblich einen dritten Weltkrieg anzetteln wollten, um die Herrschaft über eine willenlos gewordene Gesellschaft an sich zu reißen. Nikolas Hrubesch schien sich stundenlang in einschlägigen Chatrooms herumgetrieben und mit Gleichgesinnten darüber philosophiert zu haben, was man tun müsse, um die rechte Ordnung wiederherzustellen. Darüber hinaus hatten Höppners Leute auch ein paar Counterstrike-Spiele der übelsten Sorte auf seinem Rechner gefunden, aber nach allem, was Winnie Heller inzwischen über den jungen Attentäter erfahren hatte, konnte sie sich nur schwer vorstellen, dass derart sinnlose virtuelle Ballereien einen intelligenten Jungen wie Nikolas Hrubesch tatsächlich auf Dauer beschäftigt haben konnten. In der Schule war er indessen immer weiter abgerutscht, angeblich, weil ihm alles, was dort gelehrt wurde, »krank
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