Querschläger
»Ja, diese Sache mag natürlich auch eine Rolle gespielt haben.«
»Eine Rolle dafür, dass Beate Soltau von heute auf morgen nichts mehr von Ihnen wissen wollte?«
»Ja, so ähnlich«, entgegnete Sander Laurin ausweichend. »Aber sagen Sie, fänden Sie es sehr unverschämt von mir, wenn ich wissen wollte, warum Sie mir all diese Fragen stellen?«
»Weil Beate Soltau tot ist«, sagte Verhoeven.
»Und ich ihren Mörder unterrichtet habe?« Nun brach Nikolas Hrubeschs Kunstlehrer doch noch in schallendes Gelächter aus. »Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst, oder?«
»Oh doch«, entgegnete Verhoeven. »Das ist mein voller Ernst.«
»Wann haben Sie Frau Soltau eigentlich zum letzten Mal gesehen?«, beeilte sich Winnie Heller, die nächste Frage zu stellen, als sie sah, dass Sander Laurin sich mit Verhoevens Antwort nicht so ohne weiteres zufriedengeben wollte. Und sie hatte Glück: Der Lehrer ließ sich tatsächlich von einer neuerlichen Rückfrage ablenken und zog stattdessen nachdenklich die Stirn in Falten.
»Am Montag«, sagte er schließlich. »Da sind wir uns gegen Mittag auf dem Hof begegnet und haben uns einen schönen Feierabend gewünscht, falls die näheren Umstände dieser Begegnung irgendwie von Interesse für Sie sein sollten …«
»Alles ist von Interesse«, entgegnete Verhoeven knapp.
»Aha«, nickte Sander Laurin, und um seinen Mund lag ein spöttischer Ausdruck, als er hinzufügte: »Dann hoffe ich sehr, dass ich Ihnen behilflich sein konnte.«
8
»Im Fall von Angela Lukosch haben wir mindestens drei potenzielle Verdächtige mit drei sehr unterschiedlichen Motiven«, sagte Verhoeven, als sie ein paar Stunden später zu einem neuerlichen Gedankenaustausch in Hinnrichs’ Büro zusammensaßen. »Da wäre zum ersten Sven Strohte …«
Na, das war ja wohl klar, dachte Winnie Heller. Mit wem sollte er sonst anfangen?!
Verhoeven bemerkte ihren Blick, und sie fürchtete schon, dass er ihn zum Anlass nehmen würde, eine Bemerkung über Chopin zu machen. Oder über die Wechselwirkung zwischen klassischer Musik und Gewalttaten. Sie zweifelte keine Sekunde daran, dass er sich inzwischen kundig gemacht hatte, was das anging. Doch Verhoeven tat nichts dergleichen. »Sven Strohte könnte von Angelas Schwangerschaft gewusst haben«, setzte er stattdessen seine Ausführungen fort. »Er könnte auch einfach nur eifersüchtig gewesen sein, wütend darüber, dass das heißeste Mädchen der Schule nichts von ihm wissen wollte. Zum Zeitpunkt der Bluttat befand er sich, wie wir hinlänglich wissen, im Untergeschoss des Neubaus. Und zwar allein. Und damit kommen wir auch schon an den entscheidenden Punkt: Sven Strohtes sogenanntes Alibi beruht – ebenso wie die gesamte Sündenbock-Theorie – einzig und allein auf seiner Aussage, Hrubesch habe ihn am Tag vor dem Amoklauf in den besagten Putzraum bestellt.«
»Regulär hätte er zum Zeitpunkt des Amoklaufs übrigens eine Freistunde gehabt«, ergänzte Werneuchen. »Genau wie Hrubesch selbst.«
»Na, wenn das nicht verdächtig ist«, bemerkte Winnie Heller sarkastisch.
Doch ihr Vorgesetzter überging auch ihren Einwurf ohne sichtbare Reaktion. »Halten wir also fest«, sagte er, »dass Sven Strohte sowohl ein Motiv als auch die Gelegenheit hatte, Angela Lukosch zu töten. Und genau das trifft auch auf unseren Kandidaten Nummer zwei zu, Steven Höhmann.« Er machte eine kurze Pause und nahm eins der Protokolle zur Hand.
Winnie Heller fiel auf, dass er das Blatt ein Stück von sich weg hielt, und sie überlegte, ob ihm bewusst war, dass er über kurz oder lang eine Brille brauchen würde. Sie versuchte sich vorzustellen, wie er aussehen würde, wenn es so weit war, doch es wollte ihr nicht gelingen. Etwas an seinem Äußeren ließ sich nur schwer fassen, und wenn sie nicht gewusst hätte, dass Verhoeven sechsunddreißig war, würde sie sich schwergetan haben, auch nur sein Alter zu schätzen. Seine klaren Züge wirkten jung, fast knabenhaft, aber andererseits gab es bestimmte Linien, die auf Reife hindeuteten. Auf etwas, das er erlitten hatte und das sehr schmerzhaft gewesen sein musste, auch wenn sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, was das gewesen sein sollte. Soviel sie wusste, war Verhoevens bisheriges Leben ganz und gar glatt verlaufen. Abitur. Polizeischule. Heirat. Bis zu seiner Verbeamtung hatte er auf den Tag genau zwei Jahre gebraucht, die absolute Untergrenze der üblichen Zeit. Sie selbst hingegen war nun schon fast ein Jahr
Weitere Kostenlose Bücher