Querschläger
Winnie Heller bissig. Laut sagte sie: »Und konnten Sie aus Nikolas’ künstlerischen Arbeiten auch herauslesen, dass er das Potenzial zum Massenmörder hat?«
Ihre Frage war rein rhetorisch gewesen, doch Sander Laurin schien sie durchaus ernst zu nehmen. »Glauben Sie mir«, sagte er, »seit letzten Dienstag kann ich nicht aufhören, mich genau das zu fragen.«
»Kann ich daraus schließen, dass Sie Nikolas so gut benotet haben, weil Sie Angst hatten, dass er Ihnen eines Tages eine Kugel in den Kopf jagt?« Winnie Heller spürte, wie sich Verhoeven angesichts ihrer gewagten Formulierung verspannte, aber sie konnte nicht anders. Sie musste Sander Laurin provozieren.
»Das ganz bestimmt nicht«, entgegnete dieser, ohne ihr freilich die Freude zu machen, auch nur im Mindesten provoziert zu wirken.
»Sondern?«
»Was meinen Sie?«
Winnie Heller lehnte sich zurück. »Warum gaben Sie einem Jungen, den Sie für ziemlich unbegabt hielten, derart gute Noten?«
»Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, hielt ich Nikolas durchaus nicht für unbegabt«, korrigierte Laurin sie sanft, aber bestimmt. »Und was die Zensuren angeht … Tja, da könnte ich natürlich argumentieren, dass Noten in einem Fach wie dem meinen ohnehin reine Geschmackssache sind. Aber wenn Sie partout die Wahrheit hören wollen …« Er ließ den Satz offen und sah sie fragend an.
»Unbedingt«, nickte Winnie Heller.
»Ich habe Nikolas gut benotet, weil ich ihn motivieren wollte.« Sander Laurin seufzte. »Und ob Sie’s glauben oder nicht, ich weiß aus eigener Erfahrung, wie es ist, wenn man sich ungerecht behandelt fühlt.«
»Sie meinen, so wie Hrubesch sich von Karen Ringstorff verkannt fühlte?«
»Ich habe bewusst ganz allgemein gesprochen«, entgegnete Laurin mit spürbarer Vorsicht, doch insgeheim war Winnie Heller sicher, dass seine Bemerkung sehr wohl auf Nikolas Hrubeschs Verhältnis zu seiner Kollegin abgezielt hatte. Und einmal mehr fragte sie sich, ob es wichtig war, dass Karen Ringstorff ausgerechnet an diesem unglückseligen Dienstagvormittag nicht an dem Ort gewesen war, an dem sie hätte sein sollen. Wir müssten mehr Zeit haben, dachte sie. Zeit, den richtigen Leuten die richtigen Fragen zu stellen.
»Noch eine andere Sache«, wandte sich ihr Vorgesetzter indessen noch einmal an Nikolas Hrubeschs Kunstlehrer. »Wie gut kannten Sie Beate Soltau?«
Laurin schien überrascht zu sein. »Beate? Na ja, eigentlich ganz gut.«
»Hatten Sie eine Affäre mit ihr?«
Winnie Heller wartete darauf, dass der Lehrer in ungläubiges Gelächter ausbrechen würde, doch Laurin tat nichts dergleichen.
»Nein«, sagte er, und es klang fast, als spräche er zu sich selbst. »Das nicht. Wir … Es klingt jetzt vielleicht abgedroschen, aber wir waren einfach gute Freunde.«
»Sie sind nicht verliebt gewesen in Frau Soltau?«, fragte Winnie Heller, auch wenn sie sich dergleichen jetzt, nachdem sie Laurin persönlich kannte, beim besten Willen nicht mehr vorstellen konnte.
»Nein«, antwortete Nikolas Hrubeschs Kunstlehrer, abermals ohne jeden Anflug von Unglauben oder gar Spott. Er wirkte, im Gegenteil, fast ein wenig traurig. »Ich war nicht verliebt in Beate.«
»Aber Frau Soltau war verliebt in Sie?«
Er zögerte. »Das glaube ich nicht«, sagte er dann. »Wir hatten ein paar gemeinsame Interessen und schätzten einander als Gesprächspartner. Nichts weiter …«
Chapeau, dachte Winnie Heller, wenn er schon kein Künstler ist, so ist er doch wenigstens ein Kavalier!
»Aber diese Ihre Freundschaft zu Frau Soltau hatte sich in der letzten Zeit erheblich abgekühlt, nicht wahr?«
»Stimmt«, gab Laurin unumwunden zu.
»Können Sie uns etwas über die Gründe für diese Entwicklung sagen?«
»Ich nehme an, dass Beate irgendwie …«, er zögerte, aber nur kurz, »… enttäuscht von mir gewesen ist.«
»Enttäuscht? Weswegen?«
»Vielleicht, weil ich ihr nicht mehr Zeit gewidmet habe«, entgegnete Laurin diplomatisch, doch Verhoeven ließ ihm die mehr als offenkundige Ausrede nicht durchgehen.
»Uns hat man erzählt, dass Frau Soltau Sie einmal in Begleitung einer anderen Frau erwischt hat …«
Sander Laurin schien ernsthaft überlegen zu müssen, und seine Züge verdunkelten sich, während er nachdachte. Dann endlich breitete sich ein Schimmer des Erinnerns über sein Gesicht. »Ach das«, sagte er, nun wieder mit diesem überaus charmanten Lächeln, das eine romantische Seele wie Beate Soltau unwiderstehlich gefunden haben musste.
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